Christoph Hein
Aus seiner Dankrede zum Walter-Hasenclever-Preis 2008
(WHG Jahrbuch 2008/2009, S. 17 f.)
„Lassen Sie mich über Walter Hasenclever sprechen.
Fünfzig Jahre war Hasenclever alt, als er, in einem französischen Lager interniert, Selbstmord beging.
Er war einer der wichtigsten Dramatiker und Lyriker des deutschen Expressionismus,seine Stücke wurden nach dem Ersten Weltkrieg von vielen Bühnen aufgeführt.
Dann wechselte die Mode, die expressionistischen Stücke verschwanden von den Spielplänen, und Hasenclever schrieb nun sehr erfolgreiche Unterhaltungskomödien.
Mit Hitlers Machtantritt war auch diese Zeit für ihn beendet, er musste emigrieren.
Als die Franzosen ihm keinen Schutz mehr boten, sondern dem Druck des Dritten Reiches nachgaben und ihn wie viele andere deutsche Antifaschisten festsetzten, um ihn auszuliefern, floh er nochmals, emigrierte er in den Tod.
Nach 1945 erschienen seine Texte in Deutschland erneut, seine Stücke wurden von den deutschen Bühnen wieder gespielt. In meiner Jugend konnte ich mehrfach Komödien von Walter Hasenclever sehen. Die Theater und das Publikum schätzten seine leichten, amüsanten Lustspiele. Dann wechselte die Zeit aufs Neue und mit ihr die Moden, und heute wird Hasenclever nicht mehr gespielt. Den neuen Generationen sagt sein Name nichts, er scheint vergessen zu sein.
Die Walter-Hasenclever-Gesellschaft wehrt sich gegen diese Auslöschung, setzt Zeichen gegen dieses Vergessen. Das ist umso verdienstvoller und ehrenwerter, als es nicht nur ein Signal gegen die Zeitmode ist, sondern auch Widerstand gegen einen Sieg von Hitler bedeutet, ein Widerstehen gegen die Barbarei, gegen den Versuch einer Auslöschung, die das Dritte Reich an der deutschen Kultur und den Künstlern mit nachhaltigem Erfolg vornahm …
Die geistige Elite verschwand damals, viele starben in deutschen Lagern, im Elend der Fremde oder – wie ein Hasenclever oder Tucholsky – verzweifelt durch Selbstmord.
Von denen, die überlebten, kamen einige zurück. Sie bemühten sich, so rasch wie möglich in ihr Vaterland zurückzukommen, denn man kann einen Menschen aus seiner Heimat nehmen, aber nicht die Heimat aus einem Menschen. Sie kamen sehnsuchtsvoll zurück, doch diese Rückkehrer, denen man das Vaterland genommen hatte, galten nun vielen Deutschen als Vaterlandsverräter. Man hatte sie vergessen und verstoßen, ihre Rückkehr riss alte Wunden auf, an die man nicht erinnert werden wollte.
Hätten Hasenclever und Tucholsky überlebt und wären sie zurückgekommen, ihr Schicksal im neuen Deutschland wäre wohl kaum glücklicher verlaufen als das eines Walter Mehring. Der zurückkam, um hier, völlig vergessen, zu verhungern.
In wenigen Jahren hatte Deutschland seine Größe verspielt, eine Größe, die unstrittig war und weltweit anerkannt. Das Verspielen geht stets schnell und leicht.
Spielend zurückgewinnen lässt es sich nicht, das geht nur sehr langsam, Schritt für Schritt …
Wie Sie bemerken, spreche ich immer noch über Walter Hasenclever, den fast vergessenen Sohn der Stadt, der sich umbrachte, als jene Welt, der er sich mit all ihren Werten verbunden fühlte, an die er existentiell gebunden war, in den Abgrund gerissen wurde, als Deutschland unterging, als seine Größe verspielt wurde.
Das Wissen um das Verlorene aber kann uns helfen, das wache Bewusstsein von vergangener Größe, von Verlust und beängstigender Schuld kann uns motivieren, bewegen, voranbringen. Denn zum Lernen und Hinzulernen gehört auch das Nicht-Vergessen, das Sich-Erinnern.
Darum ist der Hasenclever-Gesellschaft zu danken: sie sorgt sich nicht allein um die Erinnerung an einen Schriftsteller, sondern mahnt an deutsche Geschichte, an eine große, aber auch an eine grauenvolle Zeit, die wir überstanden haben, an eine schwierige, eine schwere deutsche Geschichte, einen Kulturbruch, der Deutschland veränderte und der wohl noch für Jahrhunderte das Bild der Deutschen im Ausland prägen wird.“