Marica Bodrozic
Das Auge hinter dem Auge
Betrachtungen
Im Oktober und November 2014 hielt Marica Bodrožić an der Hochschule Rhein-Main in Wiesbaden zwei Poetikvorlesungen, die 2015 in einem kleinen Bändchen mit dem Titel
„Das Auge hinter dem Auge – Betrachtungen“ im Otto Müller Verlag Salzburg/Wien veröffentlicht wurden.
Im ersten Vortrag mit dem Titel „Über das Erscheinen des Wortes im Raum“ erläutert sie, wie sich ihrer eigenen Erfahrung zufolge der Prozess der poetischen Kreativität vollzieht.
Die Anfänge liegen tief im Inneren, im Noch-nicht-Bewussten, in einem unerklärbaren Vorwissen, das der Mensch in frühester Kindheit erwirbt, und das erst durch das Bewusstsein der Worte geweckt wird.
Die Sprache bringt erst hervor, was durch früh Erfahrenes, Beobachtetes, Erlebtes im Menschen angelegt ist, bevor dieser seinen Blick auf die äußere Wirklichkeit richtet.
Der früh erfahrene „Blick hinter dem Blick“ (S. 15), das „Auge hinter dem Auge“ lässt ihn nicht nur sehend, sondern auch handelnd Wahrheiten und Empfindungen erfassen und schreibend in Gedichten, Mythen, Märchen, Erzählungen verarbeiten. Schreiben ist „selbsttätiges Verstehen“ (S. 17).
Es geht dabei „ … nie um die reine Faktenlage, sondern um die Anordnung der Dinge im eigenen Geist …“ (S. 20).
„Auch im Leben geht es nicht um reine Faktenlage, sondern fast immer um die ‚Ideenverbindungen’ im Selbst, die in uns durch tausendfache Erfahrungen und Erlebnisse entstehen“ (S. 23).
Durch die Sprache führt das lyrische Ich von der äußeren, sichtbaren Wirklichkeit in die viel ferneren Strukturen des Inneren, beleuchtet sie unter anderen Perspektiven, erfasst neue Räume und unterliegt dabei selbst Veränderungen, denn alles ist stetige Verwandlung.
Schreiben ist für Marica Bodrožić der Versuch, „durch Sagbares Teil des Unsagbaren [zu] werden und unserer inneren Wahrheit näher [zu] kommen“ (S. 31).
„Die Literatur ist einer der Lotsen“ (S. 3) zur eigenen Erkenntnis und zu der Erfahrung, „Leser seiner selbst zu sein, wie einer der Leser seines Buches ist“ (S. 33).
Ein Dichter oder Autor beobachtet also das Vorübergehen des Lebens. Und sein betrachtendes Auge eröffnet die Möglichkeit, eine andere Wirklichkeit zu denken und zu erschaffen, und zwar nicht durch Widerspruch oder Auflehnung, sondern dadurch, dass er in der innigen Verknüpfung mit seinem eigenen innersten Wesenskern ein neues schöpferisches Ganzes hervorbringt.
Die zweite Vorlesung steht unter dem Titel „Lichtstreifen und Umwege – Über das Hören und Sehen mittels Buchstaben.“
Hier betont Marica Bodrožić, dass jeder Text schon vor der Entstehung einen Kern enthält, eine Mitte, etwas Ungeordnetes, das durch die sprachliche Schöpfung freigesetzt wird, wobei Umwege und Irrwege nicht nur unvermeidlich, sondern unerlässlich sind. „Wer sich verirrt, lernt sehen“ (S. 46). Umwege öffnen und schulen Auge und Geist. Der dichterische Schöpfungsprozess ist und bleibt also ein Geheimnis, bei dessen Ergründung die Sprache die Rolle der vorsichtig Führenden übernimmt, indem sie Empfindungen, Ideen, Bilder, Töne in den Text hinein vermittelt.
Dieser aber gewinnt seine Leuchtkraft erst durch den Leser, der ihn in seine Gegenwart holt und gleichsam Mitarbeiter an der Zukunft des Textes ist. Dabei kommt der Hand eine besondere Bedeutung zu – der Hand, die einer geistigen Bewegung schreibend Ausdruck verleiht, und der Hand, die blätternd den Fortlauf der Seiten ermöglicht, den geistigen Raum zu erobern.
Beide, Autor und Leser, müssen mithilfe ihrer inneren Stimme zu klarem Sehen kommen und mittels Sprache ihr Bewusstsein schulen, denn die Worte führen in einem nie abgeschlossenen Prozess zur Selbstbegegnung und zur Erfahrung neuer Wirklichkeiten.
Beide müssen sich ihrer engen Verbindungen mit allen Lebensformen bewusst werden, um ihren Platz im Leben und ihre Verflechtung mit dem Überzeitlichen und dem Vergänglichen zu erfahren.
Die Vorstellungskraft spielt dabei eine wichtige Rolle. Ein Schreibender erfasst zunächst intuitiv Räume, die noch im Werden begriffen sind und noch zum Denken und zur Sprache finden müssen. „Die Imagination treibt uns an die eigenen Denkgrenzen“ (S. 70). Der Autor ist aber keineswegs identisch mit den Denkmustern und Erlebnisräumen seiner Figuren. Diese erlauben vielmehr zusätzliche Verknüpfungen und Vertiefungen, sowohl innerhalb des literarischen Werks als auch in der Rezeption des Lesers. Die Literatur folgt dem Beispiel der Natur, in der ein Leben auch nicht von vornherein definiert und dem Willen unterworfen ist, sondern sich entwickelt und unerwartete Wendungen nimmt.
Und ein fertig gestelltes Buch zeigt sogar, „dass jeder Mensch sein eigener Verfasser ist, ein Leser, eine Schöpfung, die gedeutet werden will, wenn sie eine Struktur, wenn sie Klarheit erlangen und zur Selbstschau vordringen will. Lesen und Leben liegt die gleiche Struktur zugrunde“ (S. 77).
„Texte müssen rätselhaft und verstörend, sie müssen offene Fragen sein, Fragen, die Bewegung sind und die uns im Kopf die Vitalität lehren, die wir in unserem eigenen Leben verlernt haben“ (S. 83), schreibt Marica Bodrožić und lädt ihre Leser ein, sich wie sie und mit ihr auf den Weg des dichterischen Schaffens einzulassen.
Doris Lauer