Hasenclever

Drei Hasencleverstücke neu gelesen – Drei Interpretationen, die neugierig machen sollen

von Axel Schneider

Walter Hasenclever: Ein besserer Herr

Lustspiel in zwei Teilen

(Vorbemerkung: Die Zitate beziehen sich auf die Reclam-Ausgabe Stuttgart 2012.)

Im Kino der dreißiger Jahre gab es die screwball comedy: Eine in Teilen absurde Liebesgeschichte war in Dialog, Tempo und Witz so unterhaltsam, dass Millionen Katherine Hepburn und Cary Grant sehen wollten, wenn sie sich nach 90 Minuten endlich in den Armen lagen. Hasenclevers „Besserer Herr“ ist eine screwball comedy auf der Bühne, die förmlich nach einer Verfilmung schreit, die es dann auch prompt gab und von Hasenclever als indiskutabel (!!) eingestuft wurde. Schade, ich kenne den Film aus dem Jahre 1928 nicht, der zwei Jahre nach dem Verfassen des Lustspiels gedreht wurde – vielleicht würden wir uns heute mit dem Film genauso gut amüsieren wie bei der Lektüre des Stücks.

Zum Inhalt:

In den fünf Szenen des ersten Teils lernen wir zunächst die Industriellenfamilie Compass kennen, mit dem stets beschäftigen Vater an der Spitze, der hilflosen und betrogenen Ehefrau an der Seite und den beiden gerade erwachsenen Kindern Lia und Harry. „Zur Sache“ ist das Motto auf allen Gebieten, egal ob geschäftlich oder privat. So muss jetzt auch die neunzehnjährige Tochter Lia verheiratet werden, aus Geschäftsgründen bitte keine Liebesheirat, sondern gefragt sind „in unserer Zeit“ (S.6) schnelle Entschlüsse und klare Dispositionen. „Die Hochzeit ist eine Gründung, die Ehe eine Firma und das ganze Leben ein Kontobuch“ (S.14). Die Tochter geht mit der modernen Zeit, ihre Heiratsannonce muss klar, übersichtlich und „gut stilisiert“ sein. Denn: „Wenn mir wirklich mal einer gefiele, ich würde mich auch verlieben“ (S.10).

Jetzt ist es Zeit für den „besseren Herrn“ Möbius, der in der zweiten Szene die „reifere Dame“ Schnütchen mit Heiratsversprechungen finanziell über den Tisch zieht. Bei der Zeitungslektüre mit der Heiratsanzeige Lias weiß er, was er will, um sich zu sanieren. Er stürmt in sein Büro, wo er mit der Hilfe des Steuerfachmanns Rasper seine Gelder sortiert, die er aus seinen Heiratsschwindeleien bezieht. Und Briefe für alle Damen hat er auch in der Kartei. Das Treffen mit Lia wird präzise geplant, das Motto lautet: „Sachlichkeit – mit einem Schuss Romantik“ (S.26).

In der Zwischenzeit versucht Frau Compass, mit der Hilfe eines Detektivs zu verhindern, dass Lia in die Hände eines Schwindlers fallen könnte. Harry nutzt diese Situation zu seinem finanziellen Vorteil aus und entdeckt seine Liebe zum Hausmädchen Aline, die Briefe an den ihr unbekannten Möbius schreibt! So schließt der erste Teil mit dem Treffen Lias mit Möbius im Park, es soll „zur Sache“ geredet werden, aber schnell nehmen die Gefühle überhand: „Sie gefallen mir!“ sagt Möbius (S.33), der eiskalt rechnende Heiratsschwindler ist am Ende seiner Weisheit. Manches ist eben nicht nur eine „Nützlichkeitsfrage“ (S.33). Endlich langweilt sich Lia nicht mit einem Mann. Selbst zum Schwindeln fordert sie ihn mit großen Augen auf! Möbius kann nur noch stammeln: „Ich bin nicht der Mann, den Sie suchen. Ich bin – etwas ganz anderes!“ (S.38)

Im kürzeren zweiten Teil wird die Frage gelöst, wie die betrogenen reiferen Damen ohne Groll von Möbius Abschied nehmen. Der Industrielle Compass zeigt sich vom Geschäftsgebaren des zukünftigen Schwiegersohns beeindruckt, die Damen liefern Möbius, der sie glücklich gemacht hat, nicht an die Polizei aus. Keine Anzeige, Lia und Harry bekommen die gewünschten Partner, Möbius ist ein freier Mann. Und wie er das alles hinkriegt, das ist sein „Geschäftsgeheimnis“ (S.61).

Szenenfoto aus einer Berliner Inszenierung 1982 mit Harald Juhnke in der Hauptrolle.

Zum Thema: Die neue Sachlichkeit hat in der Liebe Einzug gehalten, mit der Liebe lässt sich wunderbar ein einträgliches Geschäft machen, wenn man so gerissen, witzig und skrupellos wie der Heiratsschwindler Möbius vorgeht. Doch zu unser aller Überraschung erwischen auch ihn bei seiner Suche nach Geld und Anerkennung in einer komplett vom Kommerz bestimmten Gesellschaft die Gefühle: Möbius verliebt sich in Lia, die auf „moderne“ Art und Weise per Annonce einen Mann sucht und ganz dem Wahlspruch des Vaters und erfolgreichen Geschäftsmannes Compass folgt: „Eine moderne Ehe muss auf sachlicher Basis aufgebaut werden“ (S.11). Sein Kompass ist für alle Dinge des Lebens der wirtschaftliche Erfolg, dem Familie und andere Verpflichtungen unterzuordnen sind. Die Hektik der Gegenwart macht für ihn deutlich: „Wir haben keine Zeit mehr, unglücklich zu sein“ (S.12). Ein Heiratsschwindler, der sich verliebt. Eine Industriellentochter, die eine Ehe als Investition sieht.

Ein Sohn, der die Hausangestellte liebt und für sie aus seinem Lotterleben kurzzeitig erwacht: Figuren einer überdrehten Komödie, die nichts, aber auch gar nichts mit einer ernsthaften Gesellschaftsanalyse zu tun haben will – zumindest auf den ersten amüsierten Blick. Doch wie im richtigen Leben kommen sich sachliches Kalkül und Emotionalität in die Quere – und die Liebe siegt, denn sonst wäre es auch keine Komödie! „Der größte Gauner unserer Zeit“ (S.54), der Heiratsschwindler Möbius, entgeht nicht nur allen rechtlichen Konsequenzen aus seinen jahrelangen Betrügereien, sondern wird in afrikanische Gefilde als glücklicher Bräutigam der schönen Lia entlassen.

So lautet der Schlusssatz des besseren Herrn Möbius: „Es lebe das Geschäft!“ (S.62)     

Was macht uns Freude beim Lesen und Zusehen des komödiantischen Geschehens? Weibliche Eitelkeit bekommt ihr Fett weg, wenn sich zur großen Freude Lias zwei Männer für sie schlagen wollen. Der coole Geschäftsmann Compass wird von einem Heiratsschwindler übertölpelt. Die überforderte Polizei muss Möbius laufen lassen. In allen Dialogen geht es Schlag auf Schlag.

Zeichnung Walter Hasenclevers von Fred Dolbin

Der Regisseur einer modernen Inszenierung würde vielleicht so besetzen: Jella Haase als Lia, Albrecht Schuch als Herzensbrecher Möbius, Kai Wiesinger in der Rolle des Industriellen Compass, Jessica Schwarz als seine Ehefrau. Und wenn Lia DAS KAPITAL für einen Film der Marx-Brothers hält, dann kommen auch ältere Cineasten auf ihre Kosten.

Und ganz nebenbei fragen wir uns: Auf welcher Basis ist eigentlich meine Beziehung oder Ehe aufgebaut? Wie ist es mit meinem täglichen Zeitplan bestellt? Nach wie viel Gefühl gieren wir eigentlich in unserer (vordergründig) rationalen Geschäftswelt?

Die Antwort Hasenclevers: Lass dich überraschen von dem, was alles möglich ist – und nimm es dann bei aller doch manchmal gebotenen Ernsthaftigkeit mit Humor!


Walter Hasenclever: Christoph Kolumbus oder die Entdeckung Amerikas

Vorbemerkung

Meine Besprechung dieses von Hasenclever und Tucholsky gemeinsam geschriebenen Dramas wurde durch den Besuch des Tucholsky-Museums in Brandenburg im Schloss Rheinsberg motiviert. In diesem leicht verstaubten, aber liebevoll eingerichteten Museum spielt der Briefwechsel Tucholskys mit Hasenclever in seinen letzten Lebensjahren eine wichtige Rolle, da sich der briefliche Kontakt der Beiden in den Jahren des journalistischen Verstummens von Tucholsky intensivierte.In Rheinsberg findet die gemeinsame Arbeit am Kolumbustext besondere Erwähnung.

Das Drama entstand in London und Schweden 1931 und 1932. Es ist eine Komödie in einem Vorspiel und sechs Bildern. Die Uraufführung fand am 24. September 1932 in Leipzig statt. Die Seitenangaben meiner Besprechung beziehen sich auf den Text der Hasenclever-Gesamtausgabe Mainz 1990, herausgegeben von A. Zurhelle und C. Brauer.

Große Männer soll man bewundern, aber man soll sie niemals kennen lernen.“

– ein Einblick in ein (ungewöhnlich frisches) Drama von Hasenclever und Tucholsky

Hasenclever mit Tucholsky in Paris 1926

WER? König Ferdinand von Aragon. Königin Isabella von Castilien. Santangel, Kanzler. Quintanilla, Schatzmeister. Erzbischof von Toledo. Christoph Kolumbus. Jose Vendrino. Marquise de Moya u. a.

WO UND WANN? Spanischer Hof. Amerika. Sevilla. 1492 und 1505.

WAS? Nach einem kurzen satirischen Vorspiel mit einer Geschichtsstunde zum Thema Kolumbus springt das Drama im ersten Bild an den spanischen Königshof. Klatsch und Tratsch, Intrigen, Suche nach Geld, Gerangel um Macht und Einfluss bestimmen das dortige Klima. Kolumbus gelingt es dank der Unterstützung der Königin, drei Schiffe für die Fahrt nach Indien zu bekommen. Der wissenschaftliche Streit um die Kugelgestalt der Erde wird durch den Blick auf mögliche gute Geschäfte entschieden. Finanzielle Beteiligungen sind das Schlüsselwort, der Träumer und naive Patriot Kolumbus wirkt in dieser Welt der Wirtschaft aus der Zeit gefallen.

Die letzten Vorbereitungen vor der Ausfahrt der Schiffe verdeutlichen, dass es sich bei Kommissar Vendrino, der im Interesse der Hofbeamten Kolumbus begleitet, um einen Gauner handelt. Da der profitgierige Vendrino Geld sparen will, kauft er minderwertigen Proviant und zwingt Strafgefangene, als Matrosen an Bord zu kommen. Der Erzbischof segnet die Waffen und schiebt alle weitere Verantwortung den Politikern zu. Die Kirche steht stets bei der politischen Macht.

Nach 70 Tagen auf dem Atlantik steht auf der Santa Maria, dem Flaggschiff des Admirals, eine Meuterei kurz bevor. Die Aggressivität der Mannschaft wächst, die Verpflegung ist verdorben, der Appell an den Patriotismus der Spanier verpufft. Gerettet wird Kolumbus durch den Ruf „Land!“ seines Dieners, der für einen positiven Stimmungsumschwung sorgt.

Kolumbus und seine Mannschaft stoßen auf einen neuen Kontinent, der ohne Waffen, Währung und Wirtschaft existiert – und das in großem Frieden. Die Menschen führen ein genussvolles Leben, das von Feiern, Rauchen und Spielen bestimmt ist. Vendrino spricht von nötiger „Ordnung“ (S.78), Kolumbus von den „Segnungen der Kultur“ (S.78), die es den Indianern zu vermitteln gebe – unangemessener können diese Worte in einer Idylle, wie sie die Komödie vorstellt, kaum sein. Kolumbus will Frieden, Vendrino Geschäfte, aber das alles wird von den Einwohnern nicht ernst genommen. Kolumbus erfährt als verehrter Gast des Häuptlings von einer Tänzerin, was „tabu“ bedeutet und dass eine Gesellschaft, die von Frauen geleitet wird, sehr gut und harmonisch funktionieren kann.

Nach Madrid zurückgekehrt, wird bei einem Frühstück mit dem Königspaar ohne Kolumbus von den Beratern sarkastisch kommentiert, dass die Indianer in den entdeckten Gebieten verschwunden seien und die Goldausbeute unzureichend sei. Da die Portugiesen in der Zwischenzeit den Seeweg nach Indien entdeckt haben und Kolumbus nur auf unbedeutende karibische Inseln gestoßen ist, gehen die Finanzfachleute des Hofes von Ländereien ohne größeren Wert aus. Aber auch diese Territorien sollen trotzdem mit Vendrino als neuem Gouverneur ausgebeutet werden. Nicht das vergebens gesuchte Gold, sondern die Kartoffel in Gestalt des Puffers mit Preiselbeeren tritt dank des Appetits des Königs ihren Siegeszug am spanischen Hof an. Auch die Entdeckung des Tabaks ändert nichts an der Entmachtung von Kolumbus.

Bühnenbild-Entwurf zu einer Inszenierung in Dortmund 1959 von Carlo Coehne

Im letzten Bild über zehn Jahre nach der Entdeckung Amerikas erscheint Amerigo Vespucci in Sevilla in einer Kneipe, um den großen Entdecker Kolumbus kennenzulernen. Die alten Seefahrer nehmen an ihrem Stammtisch Vespucci nicht ernst, Kolumbus spricht von Possen und nicht von Weltgeschichte, wenn es um seine Fahrten und seine Person geht. Aus Zufällen und burlesken Szenen wird bedeutende Geschichte von Mächtigen für das einfache Volk fantasiert. Ein Beispiel ist die Anekdote vom „Ei des Kolumbus“. Vespucci war auf der Suche nach einem Helden und findet einen alten Mann, der die Geschehnisse der Welt sarkastisch kommentiert. Memoiren würde Kolumbus nur schreiben, wenn er etwas zu verbergen hätte (S.108).

Hinweise und Interpretationen

Diese Komödie enttarnt mit Wortwitz und Tempo das Märchen von den großen Männern, die Geschichte machen. Die Autoren erinnern mehrfach an die Einsicht Brechts, dass es um ein Land schlecht bestellt sei, das Helden nötig habe. Intrigen und Selbstsucht bestimmen das Bild am spanischen Hofe, Karriere macht der Kommissar Vendrino, der stets opportunistisch und rücksichtslos handelt. Für den Zuschauer bringen die Enden der sechs Bilder jeweils die mit Witz transportierte Botschaft der hemmungslosen wirtschaftlichen Gier der Verantwortlichen und der Manipulation der Geschichte auf den Punkt:

Am Ende von Bild eins (S.40) zerreißen die Funktionäre das Blatt des Kolumbus, der seine Bedingungen diktieren wollte. Die Ausbeutung zukünftiger Kolonien ist beschlossene Sache, der Admiral nicht mehr als ein Werkzeug.

Das Ende des zweiten Bildes (S.53/54) zeigt die Macht der wortgewaltigen Bürokraten, die auch steuerliche Auflagen nach Belieben manipulieren. Das Leben auf hoher See ist einfacher, als im Hafen die Forderungen der Bürokraten zu erfüllen.

Die drohende Meuterei an Bord der Santa Maria (S.74/75) beendet der Ruf „Land“, das der treue Diener vom Klosett (!) aus gesehen hat. Die Wendehälse der Offiziere und Mannschaft singen die Hymne, Kolumbus ist zunächst gerettet.

Das Thema des berühmten Mannes dominiert den Schluss von Bild vier (S.89/90). Die schöne indianische Tänzerin verführt den Admiral, der vor lauter Patriotismus und Entdeckerfreude den Blick für menschliche Freuden und Laster verloren hat.

Das vorletzte Bild besiegelt den Untergang von Kolumbus am spanischen Hof und spült den Geschäftemacher Vendrino nach oben, wenn dieser Emporkömmling auch nicht ahnt, dass seine Geliebte längst bei anderen Hofschranzen fündig geworden ist.

In der allerletzten Szene prophezeit der weltfremde Kolumbus seinem neu entdeckten Kontinent eine traurige und bedeutungslose Zukunft. Nach diesen Worten wird das Bühnenbild zum Times Square in New York, Jazz ist zu hören, Leuchtreklamen strahlen (S.110/111): Hier können die Autoren ihren Protagonisten Kolumbus nur noch ironisch das Bibelwort „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid!“ zitieren lassen. Amerika als das Paradies der Welt? Eher der zu Ende gedachte egoistische Geschäftssinn, der fast alle Personen der Komödie auszeichnet und nur in der Satire aushaltbar ist.

Die Musik spielt nicht nur in dieser Schluss-Szene eine Rolle. Auch in allen weiteren Bildern wird im Hintergrund musiziert oder von den Matrosen deftig gesungen. Seien es Bänkelgesänge, Balladen, Spottlieder: Die Lieder greifen die Kritik der Komödie gezielt auf und schaffen Raum für das nötige Durchatmen des Zuschauers, der von den schnellen und witzigen Dialogen in Atem gehalten wird. Keine gesellschaftliche Institution ist vor der Kritik der Autoren sicher: Ein korrupter Hofstaat, eine nach Macht strebende Kirche, eine rücksichtslose Geschäftswelt. Die gelebte Utopie der Indianer ohne Währung, Waffen und Handel bringt ihnen den Tod. Fazit: Nicht große Männer gilt es zu bewundern, sondern an einer Gemeinschaft zu bauen, die weder Täuschung noch Manipulation braucht, sondern einen Blick für die Menschen, die „unten“ stehen und um ihre Existenz kämpfen.

Mit viel Freude und Witz beleuchtet die Komödie das Verhältnis von Mann und Frau, wobei die Positionen eindeutig sind: Diese Welt wäre mit einer Herrschaft der Frauen besser dran. Paradigmatisch ist hier das Königspaar: Der hypochondrische Ferdinand als Witzfigur, der allerdings den Kartoffelpuffer aus der neuen Welt zu schätzen weiß. Im Gegensatz dazu die machtbewusste Isabella, die die Zügel fest in der Hand hält, aber von einer Gruppe unfähiger und korrupter Berater umgeben ist.

Gelungen mit Blick auf das Verhältnis von Mann und Frau ist die Verführungsszene mit der Tänzerin Anacoana am Ende des vierten Bildes. Diese indianische Schönheit bringt dem schüchternen Kolumbus auch das neue Wort „tabu“ bei. Etwas nicht anrühren dürfen bekommt einen doppelten Sinn: Wer den Geschäftssinn der Eroberer in Frage stellt, der stirbt daran. Die Besitzgier der Spanier bleibt für die Indianer tabu.

Das Programm dieser Komödie ist auch das Kritisieren vieler scheinbar unumstößlicher Werte der bürgerlichen Bildung: Die Taten großer Männer, die Segnungen europäischer Kultur, der Mut unternehmungslustiger Völker wie der Spanier, die Missionierung anderer Nationen – das ist fragwürdig und in der Lebenspraxis oft verbrecherisch. Das Pathos der Eroberer erweist sich in der geschichtlichen Wirklichkeit als „Posse“ (S.109), Anekdoten vermeintlicher Heroen werden erfunden, um Männer als besonders mutig zu beschreiben. Hinter den großen Worten verbergen sich oft problematische Erlebnisse des Alltags, doch der Öffentlichkeit wird die Legende präsentiert: „If the legend becomes truth, print the legend!“ Dieser Satz aus einem Film John Fords (erst in den fünfziger Jahren formuliert) passt auf die Realität der Entdeckung Amerikas.

Deportation oder Disputation, geruht oder gehurt – auch mit Wortspielen und semantischen Verdrehungen arbeitet diese Komödie. Dabei ist das Tempo so hoch, dass ein zu langes Lachen die nächste Pointe verdirbt. Hier ist der Text der beiden Autoren oft frisch und amüsant.

Einen Kompass für den Entdecker sucht der Lehrer im knappen Vorspiel (S.21f.), in der Welt des Hofes gibt es diese Orientierung für den patriotischen Seefahrer nicht. Nur auf hoher See wird Kolumbus als Admiral und Kartograf geduldet. Spätestens an Land unter dem Einfluss gewinnsüchtiger Beamter zählt nur noch der mögliche Profit als Handlungskriterium.

„Der Mensch vergaß die kleinlichen Sorgen des Alltags über dieser ungeheuern Entdeckung – hier war ein Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit“ (S.22). Diese Einschätzung des Vorspiels führt die Komödie ad absurdum. Lieber ein gewöhnliches Leben, das den Menschen ein Auskommen beschert, als die im Stück aufgeführte Handlung von Lug und Trug, Bereicherung und Täuschung.

Zum Abschluss ein Blick auf das Vokabular: Schon 1932 machen sich die Autoren über das Geschwafel von der „historischen Stunde“ und dem „Endsieg“ (S.23) lustig. Nur der materielle Vorteil zählt, der Seeweg nach Indien und zur Seide und Gewürzen muss her, die Kirche setzt keine ethischen Grenzen, sondern verbrennt Ketzer und achtet auf die Vergrößerung der eigenen Macht. Die Kugelgestalt der Erde wird nicht wissenschaftlich begründet, sondern durch die Aussicht auf Gold und Gewinn entschieden. Wer zahlen kann, der bestimmt auf allen Ebenen.

Auch fast neunzig Jahre nach ihrer Entstehung bleibt diese Komödie eine unterhaltsame Lektüre. Die Biographie des Entdeckers Kolumbus kennen Hasenclever und Tucholsky genau, sie ziehen aus dem Spiel mit den historischen Figuren Gewinn für ihre Absicht, neben der Unterhaltung auch belehrend zu wirken. Die Gesetze des kapitalistischen Marktes werden mit dem Schlussbild New Yorks erneut thematisiert, das könnte auch in einer zeitgenössischen Aufführung funktionieren. Viel Freude bei der Lektüre!

PS: Es gibt eine ARD – Verfilmung dieser Komödie aus dem Jahr 1969 von Helmut Käutner mit beeindruckender Besetzung.


 

Walter Hasenclever: Münchhausen

Gestern geschrieben, heute gelesen, für morgen empfohlen

Ein Siebzigjähriger heiratet eine Siebzehnjährige – kein Plot aus Hollywood, sondern der Kern der Tragikomödie MÜNCHHAUSEN von Walter Hasenclever. Mit Richard Gere oder Uwe Ochsenknecht könnte das gut ausgehen, mit dem Lügenbaron aus Bodenwerder leider nicht:

Er zerbricht an der Untreue seiner Frau, trotzdem ist diese Heirat das große Abenteuer seines Lebens. Bert Kasties weist mit Recht darauf hin, dass Hasenclever in seinem Stück die Kraft der Fantasie feiert. MÜNCHHAUSEN ist kein politisches Drama, auch wenn es Seitenhiebe auf die Französische Revolution und die politischen Vorstellungen zahlreicher Aufklärer gibt. Der Protagonist feiert die Abkehr von der profanen Wirklichkeit und beschwört eine „gute, alte Zeit“ der Liebe und der Gemeinsamkeit hinter den Mauern von Bodenwerder. Wenn da nur nicht das Alter wäre…

Es gibt fünf Gründe, dieses Schauspiel in fünf Akten, das 1934 in Nizza verfasst wurde, im Jahr 2020 zu lesen:

  • Die Dialoge sind schnell, witzig, pointiert und unterhalten den Leser nicht nur geistvoll, sondern legen den Finger in mache aktuelle Konstante wie männliche Eitelkeit. Die Herrenrunde in Bodenwerder, die Anfang und Schluss des Stückes bestimmt, könnte es auch heute geben: Selbstgefälligkeit kommt zu Fresssucht, Bonhomie zum Weinkonsum, der Blick auf junge Damen nicht ausgenommen. Der vermeintliche Hagestolz Münchhausen glaubt an das Abenteuer der ewigen Jugend und nicht an sein wirkliches Alter. Raus aus der Einsamkeit durch die Heirat der siebzehnjährigen Bernhardine, obwohl er doch im ersten Gespräch noch altersweise formulierte: „ Mein Fräulein, in meinen Jahren ist die Einsamkeit ein Glück. Ich habe so viel Dummheit gesehen, ich habe an meiner eigenen genug“ (S.213).

  • Walter Hasenclever (damals 44 Jahre) mit seiner späteren Ehefrau Edith (damals 24 Jahre) in Südfrankreich
  • Für den Kenner der deutschen Literaturgeschichte hält Hasenclever unzählige Bonbons bereit: Der Verleger Göschen wird in seiner Arroganz von Münchhausen abgehalftert, der Baron hat nicht den Ehrgeiz, mit seinen Erzählungen als Buchautor berühmt zu werden. Seine erfundenen Geschichten sind ihm Lebenselixier und nicht auf finanziellen oder literarischen Erfolg ausgerichtet. Auch Goethe und Schiller bekommen ihr Fett weg: Wenn keine Bücher mehr geschrieben würden, dann „gäbe es weniger Unsinn in der Welt. Das meiste, was geschrieben wird, ist gelogen. Wenn ich die Wahrheit sage, glaubt mir ja keiner“ (S.203).

  • Was macht das Leben lebenswert? Das Lachen. Das Abenteuer. Das Feiern mit Freunden. Die Natürlichkeit der Jugend. Und das Glück der Liebe. In seiner Liebe zu Bernhardine lügt Münchhausen zum ersten Male nicht und bezahlt das letztlich mit dem kompletten Zusammenbruch auf allen Ebenen. „Es gibt keine Wahrheit. Es gibt nur den Rausch“ (S.228). Die junge Braut sagt es ihm voraus: „Aber Herr von Münchhausen, Sie ruinieren sich ja für mich“ (S.229). In der Hochzeitsnacht schaut der alte Baron auf seine junge und schöne Frau und sagt: „Weißt du eigentlich, was Liebe ist?…Dass alles, was Du mir je antun wirst, nicht die Seligkeit dieser Stunde aufwiegt. Dass ich am Ende meines Lebens sagen kann: Gott, ich danke dir. Es hat sich gelohnt“ (S.256).

  • Im vierten Akt zieht der Prinz in Pyrmont die englische Übersetzung der Geschichten des Barons aus der Tasche, an denen der völlig verschuldete Münchhausen nicht einen Taler verdient hat. Die junge Baronin lässt sich verführen, der alte Ehemann findet die Erzählungen in der leeren Loge seiner Frau und erlebt sich als lächerliche Figur. Er wird belogen und betrogen, der Lügenbaron hat als Causeur ausgedient: „Ein alter Mann hat nichts mehr zu hoffen. An ihm geht das Leben vorüber“ (S.274). Was ist Wahrheit? Dass selbst ein Münchhausen nicht auf Dauer an der Wirklichkeit des Betrugs, der Enttäuschung und des Ruins vorbeikommt.

  • Die Treue in diesem Schauspiel wird durch das Faktotum Rösemeyer aufs Lebendigste ausgedrückt. Er pflegt den sterbenskranken Alten, die alten Saufkumpane kommen für ein Essen zurück, und selbst Bernhardine nimmt von ihm Abschied. Das führt zum augenzwinkernden Fazit Hasenclevers: „Das deutsche Volk, mein Lieber, ist das Volk der Märchen und Abenteuer. […]Deutschland – das ist Münchhausen. Wie er leibt und lebt“ (S.277).

Dieses Stück unterhält vorzüglich, es hat wenig Staub angesetzt, und was so alles möglich ist zwischen Mann und Frau, das weiß Hasenclever genau – und wir dürfen mitdenken und mitlachen!

Alle Zitate sind dem Band II.3 der Gesamtausgabe Hasenclevers von A. Zurhelle und C. Brauer (Mainz 1990) entnommen.

Ein Gedanke zu „Drei Hasencleverstücke neu gelesen – Drei Interpretationen, die neugierig machen sollen

  • Michael Kurt Locher

    Lieber Axel,
    deine Besprechungen von Hasenclevers Werken sind einfallsreich, fantasievoll und motivieren zur Lektüre und zum Theaterbesuch der Stücke.
    Interessant ist besonders die Betonung des Tempos und der ökonomischen Rationalität, das das Verhalten der modernen Menschen gerade auch in Liebesbeziehungen bestimmt. Die Nüchternheit der Zweckerwägungen lasst auch an die Neue Sachlichkeit in der zeitgenössischen Bildenden Kunst denken.
    Amüsant sind auch die Besetzungsvorschläge für Inszenierungen bzw. Verfilmungen, die die Figuren anschaulich machen. Insgesamt ist die Screwball Comedy als Gattung attraktiv, die auch humoristische Knalleffekte generiert. Ich denke auch an Feydaus Komödien
    Ich wünsche mir Hasenclevers Stücke im Fernsehen und im Theater, nicht nur in Düsseldorf.
    Mit herzlichen Grüßen
    Michael

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