Jenny Erpenbeck: Dankesrede zum Hasenclever-Preis

Sehr geehrte Damen und Herren, daß ich durch diesen Preis von Ihnen geehrt werde, freut mich sehr. Und wenn diese Rede vielleicht nicht ganz so lang wird, wie Sie bei dieser Gelegenheit sein sollte, liegt es ganz sicher nicht an meiner mangelnden Dankbarkeit über die große Ehre und die finanzielle Anerkennung, die mit diesem Preis verbunden sind, sondern daran, daß ich in der Woche, in der ich eigentlich mit dem Schreiben dieses Textes beginnen wollte, leider einen ganz anderen Text schreiben musste. Manche von Ihnen werden letzte Woche im „Spiegel“ meinen Nachruf auf Bashir Zakaryau, den Anführer des Flüchtlingsprotestcamps vom Berliner Oranienplatz, Vorbild für den Raschid in meinem Roman „Gehen, ging, gegangen“, gelesen haben. Und es wird Sie – als Hasenclever-Kenner, nicht verwundern, wenn ich Ihnen sage, daß sich mir in der großen Trauer, die die Nachricht von Bashirs Tod in mir ausgelöst hat, die Paralle zu dem bitteren Tod des Flüchtlings Hasenclever aufgedrängt hat. Sicher, Bashir hat nicht selbst Hand an sich gelegt, aber dennoch. Er, dessen Vater bei Unruhen in Nigeria verbrannt wurde, dessen zwei kleine Kinder bei der Flucht von Libyen nach Lampedusa ertrunken sind, und der trotzdem nie aufgegeben, sondern sich mit ganzer Seele für eine Veränderung der europäischen Asylgesetzgebung eingesetzt hat, der für seine Leute gekämpft hat wie ein Löwe, dieser Mann ist nach 4 Jahren in Europa, in denen sich auf der politischen Bühne buchstäblich nichts bewegt hat, nach 4 europäischen Jahren, in denen er seine Freunde, allesamt Kriegsflüchtlinge wie er, in erzwungener Untätigkeit hat ihr Leben verwarten sehen, nach 4 Jahren unwürdigen Antichambrierens bei Politikern und Behörden, 4 Jahren ergebnislosen Verhandelns der kirchlichen Unterstützer der Gruppe mit dem Berliner Senat – nach diesen 4 kräftezehrenden, zermürbenden Jahren ist dieser Mann vor anderthalb Wochen seiner schweren Herzkrankheit erlegen. Vor wenigen Tagen haben wir den Nigerianer Bashir in Berlin, in fremder Erde, begraben. Wir Deutschen wissen doch, wie schwer so ein Tod in der Fremde wiegt. Hat sich nicht auch der Flüchtling Walter Benjamin in der Fremde umgebracht, 1940, in Portbou, Spanien? Und Hasenclevers enger Freund Kurt Tucholsky, 1935, in Schweden? War nicht auch Ernst Toller, ebenfalls ein guter Freund Hasenclevers, ein Flüchtender – der seinem Tod in die Arme lief? Über die Schweiz und England führte ihn sein Weg nach N.Y., wo er sich 1939 das Leben nahm. Es heißt, daß Joseph Roth, selbst Exilant in Paris, zusammenbrach, als er von dessen Tod erfuhr. Wenige Tage später starb er dort, in einem Armenspital. Stefan Zweig beging 1942 Selbstmord in Brasilien. Margarete Steffin wurde 1941 auf der Durchreise durch die Sowjetunion von Brecht todkrank in Moskau zurückgelassen, auch sie starb in der Fremde. Franz Werfel, auch er einer der engsten Freunde Hasenclevers, starb am Ende des Krieges, 1945, herzkrank in der Emigration in Los Angeles. Ja, man kann am Fremdsein sterben, an der Verzweiflung, an der Ungewißheit. Man kann an dem sterben, was man zurücklassen muss, an der verbrannten Heimat – an der Angst, die die Gegenwart besetzt hält, und auch an der Zukunft, die ausbleibt. Viele Syrer gäbe es in letzter Zeit, erzählt uns der muslimische Bestatter in seinem Büro, viele Syrer, die genau in dem Moment stürben, in dem die Familienzusammenführung mit ihren Frauen und Kindern von den deutschen Behörden genehmigt worden sei. Wie groß muß die Anspannung eines Flüchtlings sein, wenn das Loslassen so gründlich ist, dass es sogar das Loslassen des eigenen Lebens umfasst? Und mit dem Tod des Antragstellers sei übrigens, tragischerweise!, natürlich auch der Grund für die Familienzusammenführung erloschen, sagt der Bestatter. Es tut mir leid, daß diese Rede nicht so heiter ist, wie sie bei einem so erfreulichen Anlaß eigentlich sein sollte, aber Hasenclever, der Pazifist, wird es mir sicher nicht nachtragen. So lange hat es Frieden in Europa gegeben für meine Generation, daß der Krieg für uns kaum noch vorstellbar ist, unser Frieden ist die Folge all dessen, was die Generation Hasenclever erlebt hat, aber nun sind wir wieder an einer Jahrhundert-, sogar an einer Jahrtausendschwelle und müssen uns fragen: Was wird die Folge eines so langen Friedens und eines so großen Wohlstands sein? Dass wir mehr Kraft haben, um in dieser aus dem Lot geratenen Welt auf Kosten anderer zu überleben? Daß unsere Angst zunimmt bis hinein ins Irrationale? Vielleicht ist es kein Zufall, dass ausgerechnet ein Denker mit dem Namen Tomasi di Lampedusa Mitte des letzten Jahrhunderts einmal gesagt hat: „Es muss sich alles ändern, damit alles so bleibt wie es ist.“ Haben wir denn tatsächlich das Vermögen verloren, uns in einem Menschen, der alles verloren hat, wiederzuerkennen? Leider, muß man sagen, ist es wahrscheinlich so, wie es immer schon war: daß wir diesen sogenannten „Anderen“ hassen, damit wir uns in ihm nicht wiedererkennen müssen. Als ich vor Jahren über ein Mädchen schrieb, das von den Nazis in Treblinka umgebracht wurde, befiel mich zum ersten Mal die Erkenntnis, daß, wenn auch nur ein Kind, das, wie alle Kinder, zum Wachsen und zum Entfalten seiner Entwicklungsmöglichkeiten gemacht ist, wenn also auch nur ein Kind durch staatliche Willkür umgebracht wird, wenn die Entwicklungsmöglichkeiten dieses Kindes mißachtet werden, nichts wert sein sollen, daß dann diese Werte grundsätzlich ausgehebelt werden. Daß die Auswahl, das Denken in Hierarchien, die sogenannte „Selektion“ nur eine Verdrängung des Fakts ist, daß der andere wir sind. Wer das Lernen eines jüdischen Mädchens umbringt, bringt das Lernen um. Nichts anderes geschieht heute vor unserer Haustür, manchmal, wenn es für einige Zeit gelingt, es aus dem Blickfeld zu schieben, geschieht es auch auf dem Mittelmeer oder in einem türkischen oder griechischen Flüchtlingslager: Wenn wir die Talente, die Möglichkeiten und das Menschsein einiger verachten und vor die Hunde gehen lassen, bleibt der Fakt, daß uns die Talente, die Möglichkeiten und das Menschsein unter gewissen Umständen nichts wert sind. Das aber schlägt auf uns zurück. Die Möglichkeit, die Verachtung zu denken, ist eine Grenzöffnung. Diese Grenzöffnung kostet Menschen, die auf dem Mittelmeer treiben oder in Kühlwagen eingesperrt sind, das Leben, uns aber kostet diese Grenzöffnung unsere Unschuld. Sie kostet uns mehr, als auf den ersten Blick zu sehen ist. Sie kostet uns uns. Hasenclever, dessen Generation auch mein Großvater angehört hat, ist wie dieser freiwillig in den Ersten Weltkrieg gezogen. Am Rand der Schlachtfelder dieses Krieges standen zum ersten Mal Wissenschaftler, um die Wirkung des Kampfgases life zu beobachten. Das Gas funktionierte. Mein Großvater kam nur knapp wieder daraus hervor. Er schrieb ein Antikriegstagebuch und wurde Kommunist, Remarque, der in Osnabrück zum Freundeskreis meines Großvaters gehört hatte, schrieb seinen Welterfolg „Im Westen nichts Neues“ , auch Hasenclever verwandelte sich innerhalb weniger Kriegswochen in einen Pazifisten und schrieb das Schauspiel „Die Menschen“, und etwas später das Drama „Jenseits“ in der erklärten Absicht, die „Welt der Lebenden und der Toten“ zu verbinden. Heiner Müller hat einmal gesagt: „Nur mit den Toten kann man die Welt aus den Angeln heben, denn sie selber bewegen sich nicht.“ Sie seien sozusagen „der archimedische Punkt“. Er sagte: „Wenn der Zweifel an der Veränderbarkeit der Welt wächst, verstärkt sich der Wunsch, mit den Toten Kontakt aufzunehmen.“ Die zwanziger Jahre sind eine Suche. Manche der den kleinstädtischen Zirkeln entsprossenen Rebellen glauben einen Moment lang an die Weltrevolution, andere an Paneuropa, wieder andere flüchten ins Morphium, Hasenclever erlebt die Niederschlagung des Kapp-Putsches in Kiel, entsagt jeglicher Ideologie und zieht sich ins Erzgebirge zurück, um den Mystiker Swedenborg ins Deutsche zu übersetzen und in lesbarer Form herauszugeben. „Die Einsicht“, schreibt er im Nachwort zu seiner Swedenborg-Nachdichtung, „daß dieses Dasein zwischen Geburt und Tod nicht unser einziges und nicht unser letztes Dasein bedeutet, daß wir zwangsmäßig in die Welt gesetzt sind, um eine Aufgabe darin zu erfüllen, die im höchsten und verantwortlichsten Sinne wir selbst sind, ist der erste Schritt zur Einkehr. Wer sich selber rettet, rettet zugleich die Menschheit“, schreibt er – und schreibt weiter: „Mitten hineingestellt in diese Welt der Verwirrungen und Leidenschaften, hat der Dichter die Aufgabe, die Reiche der Lebenden und der Toten zu verbinden“. In meinem Buch „Gehen, ging, gegangen“ gibt es eine Stelle, in der ich darauf Bezug nehme, daß die Flüchtlinge, die Krieg und waghalsige Überfahrten überlebt haben, ebensogut, mit etwas weniger Glück, am Grunde des Meeres liegen könnten. Und sie wissen das alle. „Tote auf Urlaub“ hat einmal jemand die Kommunisten genannt, aber „Tote auf Urlaub“ – das sind eben auch diese Flüchtlinge zum Beispiel bei uns in Berlin, die sich am Alex treffen, und im übrigen jahrelang auf Matratzen in irgendwelchen Notquartieren sitzen und auf eine politische Besserung ihrer Lage warten (die allerdings bislang ausbleibt), und die in den Fernsehnachrichten, wenn ein neues Bootsunglück geschehen ist, in den Ertrinkenden sich selbst wiedererkennen. (Wenn so ein Unglück überhaupt noch eine Meldung in der Nachrichtensendung wert ist. Im Süden nichts Neues…) 4000 Ertrunkene sind es schon wieder in diesem Jahr. In den überlebenden Flüchtlingen sind Leben und Tod zugleich anwesend und müssen beide mitgedacht werden. Verwandelt sich so ein Überleben überhaupt jemals wieder in ein Leben – solange das Arbeitsverbot gilt, solange also auch keine Familie gegründet werden, kein Kind geboren werden kann…? Wann hört der Tod, der mitten unter uns gelebt wird, endlich auf? „Wenn man angekommen ist, heisst die Flucht dann immer noch Flucht? Und wenn man auf der Flucht ist, kommt man dann jemals an?“, habe ich mich schon in meinem Buch „Heimsuchung“ gefragt, und das liegt 8 Jahre zurück. Heute stellen die Literaturkritiker die Frage, ob ein Buch, das sogenannte „echte Literatur“ sein will, sich mit der Gegenwart beschäftigen darf. Und ich sage, natürlich darf es das. Die literarische Form des Nachdenkens ist notwendig, gerade für uns, in dieser Zeit, die für keines der Probleme eine politische Lösung bereithält. Auch wir müssen suchen. So wie Hasenclever und all seine Freunde gesucht haben. Wieder ganz von vorn beginnen mit dem Nachdenken, unserer sogenannten heilen Welt die Oberfläche abziehen und sezieren, was darunter ist. Sich von der Fassade, die unser Alltag heisst, nicht in die Irre führen lassen, sondern uns auch mit dem Blick auf das, was uns umgibt, den existentiellen Themen und Fragen aussetzen, die seit Jahrtausenden Erzähler und ihre Zuhörer oder Leser im gemeinsamen Nachdenken zu bewältigen versuchen – und Generation für Generation wieder neu zu bewältigen versuchen müssen. Ist wirklich der Krieg der Vater aller Dinge – oder der Frieden? Warum auch werden wir, die wir doch schon einige Zeit dem Urwald entlaufen sind, noch immer von Macht korrumpiert? Wie geht Entwicklung vonstatten? Was ist Fortschritt? Gibt es ihn überhaupt, und ist er wünschenswert? Dass Alfred Nobel den Nobelpreis gestiftet hat, hat mit diesem zweifelhaften Begriff von Fortschritt zu tun. Der Preis war seine Entschuldigung dafür, daß mit dem von ihm erfundenen neuartigen Schiesspulver Menschen einander umbrachten und er damit Geld verdient hat. Von menschheitlich gesehen ewigem Interesse ist auch die Frage danach, was Grenzen sind, warum sie entstehen, wozu sie notwendig sind und um welchen Preis man sie verteidigen darf oder muss. Durch Forschungen ist belegt, daß der wechselseitige Rassismus zunimmt, je näher sich, räumlich gesehen, zwei Gruppen von Menschen sind. Der Drang nach Abgrenzung hat also mit Nähe zu tun. Identität ist in hohem Maße eine soziale Angelegenheit, allerdings auch jenseits von Ländergrenzen oder Nationen. Es scheint so, daß jemand, der seine Heimat verliert, auch zu einem Gutteil sich selbst verliert. Aber was ist für Sie oder für mich oder für den Mann, der draußen an der Bushaltestelle wartet, „Heimat“? Ist Heimat etwas, das sich entwickeln, oder vergehen, oder wachsen, sich verändern kann? Und kann man, wenn man sie verloren hat, sich selbst in einem anderen Leben wiederfinden? Können wir uns vielleicht mithilfe der Literatur in den Heimathafen der Erinnerung retten? Das sind nur einige dieser existentiellen, ewigen Fragen, die von Homer bis Proust – und auch von Hasenclever! – gestellt wurden, die aber genausogut heute und anhand dessen, was uns umgibt, gestellt werden können. Der Tod ist der Punkt, an dem sich all diese Fragen brechen, an ihm müssen wir, was wir sein wollen, messen. Für diejenigen, die, während wir leben, schon am Grunde des Meeres liegen, bleibt nur zu hoffen, dass Walter Hasenclever Recht hat, wenn er sagt: „Es gibt keinen Tod, es gibt nur Verwandlung.“ Aachen, 6.11.2016