Hasenclever-Literaturpreis

Karl Riha für Marlene Streeruwitz

Aus der Laudatio von Karl Riha für Marlene Streeruwitz
(WHG-Jahrbuch 2002–2004, S. 71 f.)

Karl Riha spricht von den Poetik-Vorlesungen, die Marlene Streeruwitz 1997-98 in Frankfurt gehalten hat:

„Die Autorenposition“, hält sie in ihrer zweiten Vorlesung fest, „war für mich seit jeher die schwierigste Findung. Ich begann aus den radikalsten Wünschen auf Befreiung des Schreibens das Schreiben mit Bewusstseinsstromtechnik. Befreiung vor allem von einem literarischen Super-Ego, das sich aus dem Lesen aller mir zugänglichen Bücher hergestellt und in einer literaturwissenschaftlichen Ausbildung ein analytisches Handwerkszeug bekommen hat-te. Die Befreiung von den Vätern des literarischen Kanons. Übrigens. Ich wollte damals auch nichts mit den Müttern zu tun haben. Diese Befreiung des Schreibens lief parallel zur politischen Auseinandersetzung des Feminismus in der 70er Jahren.“

In der nächstfolgenden Veranstaltung zeigt sie eine Serie von Dias und reagiert auf jedes Bild, das sie an die Wand wirft, mit instruktiven Fragen, so etwa gleich zum ersten Diapositiv:

„Ist ein Text immer nur die Zeit, der es bedarf, ihn herzustellen? Ihn also zu schreiben.
Oder zu lesen.
Oder kann in einem Text eine besondere Zeit aufbewahrt werden?
Eine Zeit, die, einer eigenen Zeitrechnung gehorchend, sich aus der allgemeinen Zeit heraus-lösend, in der eigenen Zeit eine Rettung findet?
Die, Zeit so transzendierend, Zeit erkennbar macht? Und damit ein Entrinnen ermöglicht?
Im Erinnern?“ […]

Stilistisch auffällig verzichtet die Autorin in ihrem Roman Nachwelt auf Souveränität und Allwissenheit des herkömmlichen epischen Präteritums und unterwandert die fixen Formen der Er- beziehungsweise Sie-Erzählung durch das Prinzip des Tagebuch-Notats.
Das heißt, sie überträgt die Charakteristika der einen auf die andere Erzählform und schafft sich so eine markant eigene Stilform. […]
Fünf Punkt-Zeichen, wie man sie normalerweise zur Markierung geschlossener syntaktischer Einheiten benutzt, in noch einmal zwei Druckzeilen. Hypotaxen zerfallen in kurze, kürzeste Sätze und oft sogar nur einzelne Worte. Verben werden aus ihrer syntaktischen Bindung her-ausgelöst und separat gesetzt, durch ‚und’ verbundene Wortkopulationen werden zerlegt und auseinander genommen.
Doch dabei handelt es sich um keine sinnlosen Destruktionen, sondern um Arrangements in Richtung des monologue intérieur, wie wir ihn etwa aus der Novelle Lenz von Georg Büchner, aus Arthur Schnitzlers Roman Leutnant Gustl und Thomas Manns Lotte in Weimar, aber auch aus den Werken von James Joyce kennen.
Grammatikalische Dekomposition und Preisgabe der stets gegenwärtigen epischen Mittler-Instanz laufen dabei parallel und begründen die eigenwillige Dynamik der Romanprosa von Marlene Streeruwitz.
Sie schärfen die Aktivität des Lesers beim Lesen, fordern sie doch seine Aufmerksamkeit fürs konkrete sprachliche Detail und fürs Prinzip der ‚Simultaneität’ von Fakten und Geschehnissen.

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