Katja Lange-Müller für F.C. Delius

Aus der Laudatio von Katja Lange-Müller für Friedrich Christian Delius (WHG-Jahrbuch 2002–2004, S. 128 f.) Ich halte das Gedicht „Ich leih dir meinen Kopf“ für eines seiner besten und poetischsten, zumal es auch noch anmutet wie eine Poetik: Ich leih dir meinen Kopf für diesen Nachmittag. Du kannst ihn durchstöbern, diesen Irrgarten … Du kannst ihm eine Brille aufsetzen, wie immer ihn lesen lassen, Gedichte, Berichte, Wissenschaft. Du kannst seine Sehstärke prüfen, seine Blindheit, wieviel er wahrnimmt von der Welt und von dir … Du kannst genau feststellen, wann er weghört. Du kannst ihn mit Gerüchten fesseln. Du kannst ihn nach Lissabon verpflanzen. Du kannst mit ihm aufs Dach steigen und dir erzählen lasen, was er alles nicht sieht. Von Unglück zum Beispiel möchte er wenig wissen, aber soviel, wie ihm zur Veränderung erforderlich scheint, obwohl er ja nichts ändert, erstens allein und zweitens im Kopf. Deshalb kannst du ihm wenigstens deinen Kopf entgegenhalten. Du kannst ihn schlafen lassen und dir Geschichten erzählen lassen wie diese: Ich leih dir meinen Kopf. Obwohl unseres Preisträgers Gestalten, Figuren, Charaktere – oder sollte ich Menschen sa-gen? – einander nicht einmal dann sonderlich ähneln, wenn sie, mehr oder minder deutlich, autobiografische Züge tragen, haben sogar die unterschiedlichsten von ihnen auch ein paar Gemeinsamkeiten, die einem erst richtig zu denken geben, wenn man sie alle kennt, die vermutlich eher erinnerten, die wahrscheinlich mehr erfundenen und jene, aus deren – in Zei-tungsmeldungen bestenfalls skizzierten – Schicksalen, Verhängnissen, Taten etwas hervorlugte oder –lugt, das einen Christian Friedrich Delius veranlasst zuzugreifen, ein Fädchen von dem, was dieser Schriftsteller braucht für einen, richtiger: seinen literarischen Stoff. Sie mögen, vielleicht weil Sie in einem anderen Soziotop und politischen System aufgewachsen sind, also andere Hintergründe, Erfahrungen, Prioritäten haben, anderes wichtiger finden. Doch mich beeindruckt am stärksten, wie genau unser Preisträger den Ton seiner Figuren trifft, egal ob er sie aus der Ich-Perspektive erzählen oder miteinander reden oder, personal geführte, absolut glaubwürdige, ja ‚gefühlsechte’ Monologe und Gedankenmonologe halten lässt. ‚Er geht’, schrieb ich aus Anlass seines sechzigsten Geburtstags, ‚in seine Figuren hinein, er vertraut ihnen, auf dass sie sich ihm anvertrauen, er spielt mit ihnen ernste, ja existentielle Spiele, manchmal auch nur Schicksal – oder sonst ein Instrument – aber er ist dabei kein an-derer als Friedrich Christian Delius, allerdings ein von Buch zu Buch sich verändernder, von dem ich also nie sagen kann: Jetzt kenne ich ihn. Darin, in seiner Lust zur Metamorphose, liegt seine originäre Qualität.’