Maria Behre: Kirschholz und alte Gefühle

 
       

Kirschholz und alte Gefühle

Roman

München: Luchterhand Verlag 2012 (im Folgenden abgekürzt mit der Sigle“ KG“, Taschenbuch (btb 8.9.2014) Am Tisch mit Marica Bodrožić Was passiert, wenn man Marica Bodrožićs erfolgreichsten Text liest, den Roman „Kirschholz und alte Gefühle“? Man hat Lust auf mehr, auf die Entfaltung der Holz-Metaphorologie, da sie sehr alte, anthropologische tiefe Gefühle weckt, bis hin zu den biedermeierlichen Kirschholz-Tischen in Novellen der Romantik, einer Gattung, die Theodor Mundt so beschrieben hat: „Die Novelle sitzt mit zu Tische“, wenn Familien beim Abendessen und Abendgespräch zusammen sind. Aber zunächst die inspirierende Geschichte. Es geht um „Großmamas alter Küchentisch“ (KG 16), „Großmutters istrischer Tisch“, ein „Erinnerungsstück“ (KG 35) der Familie. „Ich gehe in die Küche und setzte mich an Großmutters alten Kirschholztisch. Ich betrachte ihn. Er macht mich glücklich. Wenn er ein Gedächtnis hat und meine Theorie aus der Kindheit stimmt, muss ich ihn nur an einer Stelle mit dem Messer anritzen. Dann wird das Kirschholz bluten und erzählen, wird mit allem herausrücken, mit allem, was der Baum in den letzten hundert Jahren gehört und gesehen hat.“ (KG 34) Dieser Tisch dient der Ich-Erzählerin, Arjeta Filipo, dazu, ihren Familien-Nachlass, speziell den ihrer Mutter, zu ordnen, ihre Beziehung zu ihrer Mutter wird auf dem Erbstück der Großmutter bearbeitet. Dieser klar begrenzte Raum bleibt im Roman stabil. Beim Tisch handelt es sich um eine wirkliche stabilitas loci in der Fluchtgeschichte der Ich-Erzählerin, die aus dem fast vier Jahre belagerten Sarajevo flieht und durch Europa zieht. Es wird speziell ein Umzug von Paris nach Berlin geschildert, der einen Wechsel der Sprachen, der Studienfachausrichtung (hier mit der Philosophin Hannah Arendt parallelisiert, die von Berlin nach Paris fliehen musste, KG 42 und 51) und wechselnden Freundschaften. Auf dem Tisch werden Erinnerungen in Form von Photos im Zeitfenster von sieben Tagen als Arbeit an der Vergangenheit platziert und betrachtet. Ich versuche, eine Ordnung in das Chaos auf dem Tisch zu bringen und die Fotos nach Jahren, Geburtstagen und Festen zu sortieren. Meine Mutter und ihr Blick sind bei mir. […] Der warme Tisch wird mein großes Passepartout, ein Rahmen für meinen lange aufgeschobenen Versuch, Mutter und ihren Augen gerecht zu werden.“ (KG 165) Die Beziehung zwischen Ich-Erzählerin und ihrer Mutter wird in der Metapher eines Bildes beschrieben, das durch den Tisch gerahmt und damit zusammengehalten wird. In diesem Bild herrscht eine extreme Spannung, die kaum in einen Rahmen eingespannt werden kann. Das Organ der Auseinandersetzung ist das Auge mit seinen Blicken und damit Perspektiven. Dabei kommen bewertende Blicke als Belastung ins Spiel, denn der Tisch wirkt als „Richtertisch“ (KG 153). Was liegt auf dem Tisch? Die mit dem Auge der Mutter ausgenommenen Photographien, mit einem „besonderen Fotoapparat“ aus Amerika, „eine alte Brownie“. Der Apparat ist präsent, auch wenn er nicht genutzt wird. „Selbst wenn nicht fotografiert wurde, fühlte ich mich von diesem großen Kameraauge verfolgt, das in meiner Vorstellung wie eine Waffe auf mich gerichtet war.“ (KG 125) Und die Mutter bringt ihr diese Photos in einer Plastiktüte (KG 125), die Ich-Erzählerin hat keine Kamera (KG 126), schaut sich aber diese lose Sammlung nur bestürzt an. Ihr gelingt es am Schluss, sich von den belastenden Erinnerungen zu befreien. „Ich werde die Fotos nicht behalten. Weiter, ins Jetzt. Ich packe sie in eine große Kiste wie ein Grab. Ich bestatte sie. Für immer.“ (KG, 219) Der Tisch ist frei für die gewonnene Gegenwart, als erfüllter Augenblick. Die Zimmer sind „leer“ für Neues. „Das Kirschholz schweigt. […] Den alten Tisch in meiner Küche werde ich behalten. Er soll bleiben, was er ist, ein Zeuge, der alles sieht und der mir zeigt, dass Sehen ändern heißt.“ (KG 220) Die „tabula rasa“-Situation gelingt, wie schon vorher, als sich die Ich-Erzählerin von Paris nach Berlin wegbewegte vom Alten zum Neuen. Dieses Wegbewegen als Lebensbewegung ist wie eine Sternenbahn, womit eine Metapher angesprochen ist, die Bodrožićs Werk bestimmt, nicht nur im Titel der Essays „Sterne erben, Sterne färben“, zweite Auflage München: btb 2016, Erstauflage 2007, im Folgenden abgekürzt „SESF“)“. „Was ein Mensch, der sich nie fortbewegte, mit Nietzsches Satz über das Chaos anfangen konnte, war mir ein Rätsel. ‚Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.‘ Diesen Satz hatte mir Nadeshda auf ein T-Shirt drucken lassen, das ich immer zum Schlafen anzog, weil ich eine ganze Zeit lang Nietzsches Buch ‚Also sprach Zarathustra‘ wie eine Bibel mit mir herumtrug. […] bis heute beschäftigt mich die Frage, was ein Mensch erfahren kann, wenn er sich in seinem eigenen Leben immer in ein und demselben Radius bewegt und nie gezwungen ist, sich jenseits des ihm bekannten Kreises zu denken.“ (KG 141f.) Um einen gemeinsamen Nenner zwischen den auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Metaphern „Tisch“ und „T-Shirt“ zu finden, ist der energiegeladene Ort des Kreativen zu nennen, im Tisch die Blutbahnen des Lebens und im T-Shirt das in ihm geborgene, verborgene Herz des/ der TrägerIn. Im Roman gibt es weitere Tische: Auf dem Tisch einer Freundin Arjetas liegen Bücher und zwar beim hochsymbolischen Vorgang, dass dieser Tisch als Nähtisch, Zuschneidetisch für das Designen von Kostümen im Rahmen der Ausbildung zur Kostümbildnerin benutzt werden, die Arjetas Freundin Hiromi aus Tokio vollzieht. Diese studiert Philosophie und Design. Beide lernen sich kennen in einem Seminar zu Platons Höhlengleichnis und wollen danach gemeinsam der Welt der Schatten in einem bunten Straßen-Café entfliehen. Beim Lernen des Nähens von ihr erinnert sich Arjeta, die das Handwerk der Kostümbilderin so gut beherrschen lernt, dass sie ihn dann in einem Theater am Kurfürstendamm in Berlin ausüben kann, dass ihre Mutter sie als Kind für den Blick des Vaters mit Kleidern ausstattete, dieses nennt sie „Elternspiel“ und ‚Verkleidungsorgie‘, ihr Mutter nannte es „Ideen“ (KT, 41f.). Parallel dazu erzählt Hiromi von ihrer Mutter, die trotz Armut einer Händlerin alle Birnen abkaufte, um den darunter liegenden „Stoff mit feinem Sternenmuster“ anzuschauen, den sie dann geschenkt bekommt, als „Sternenstoff“ (KT, 44). Mit den Komplementärfarben der gelben Birnen und des violetten Stoffes erscheint diese Erinnerungsanekdote als leuchtendes Kleinod von Lebensfreude in äußerer Kargheit. Unter dieser Prämisse unterhält sich Arjeta mit Hiromi bei Nähen mit „Freude an Stoffen und Mustern“ über die Bücher, die bei ihr auf dem Kirschholztisch liegen, die Bücher Hannah Arendts. Deren Titel werden im Roman nicht explizit genannt, aber Hiromi ist auch Aktivistin, die Petitionen schreibt, die auch auf dem „Küchentisch“ neben „den Hannah-Arendt-Büchern und den schönen Stoffen aus einer Manufaktur von Jouy-en-Josas herumliegen“ (KT, 51), zur Rettung der Insekten, um von ihrer Kreativität im Bienenstock und Termitenbau eine „Architektur mit menschlichen Maßstäben“ zu lernen. Und die Ich-Erzählerin durch diese Inspiration imaginiert die Sätze, die vor der Belagerung ihrer Stadt Sarajevo hätten gesagt werden müssen, ganz im Geiste und Sinne Hannah Arendts: „Erheben Sie Ihre Stimme gegen die Barbarei! Stehen Sie ein für die Zivilisation! […] Gehen wir hin! Machen wir die Augen auf! Nehmen wir Anteil! Denken wir mit unseren eigenen Köpfen! Finden wir eine Sprache für das, was wir sehen!“ (KT, 52) Diese sieben Imperative bezeugen eine Kenntnis der Arendtschen politischen Philosophie, die an Geist und kunstfertiger Sprachfügung nicht zu übertreffen sind. Und damit ist eine Besonderheit des Romans benannt: Anekdoten, „kleine Erzählungen“ (KT 43), zusammengefügt in ein wunderbares Muster, von einer Erzählerin, die sich auf der ersten Seite vorstellt als „Sternguckerin“, ein Name ihrer Eltern für ihre Krankheit, bei der der Kopf nach hinten fällt, die sie beschreibt als Trias: „die kleinen Risse in meinem Bewusstsein“, „Lücken in meiner Erinnerung“, „die Pausen in meinem Gedächtnis“. Diese Erfahrungen des ‚Makels‘ nimmt sie an als „meine Absencen“, ihr Arzt spricht von „Anfällen. Pétit mal“ (KT 7). Durch diese Herausforderung wird die Lebensaufgabe des Zusammenfügens, des Vertextens existentiell. Auch in anderen Werken erscheint der Tisch, vorrangig im Roman „Das Wasser unserer Träume“ (Roman, München: Luchterhand Verlag 2016, im Folgenden abgekürzt mit der Sigle „WT“), dass zusammen mit „Kirschholz und alte Gefühle“ zu einer Trilogie gehört. Im Krankenhaus liegt ein Patient mit Lock-In-Syndrom als Ich-Erzähler, er findet ins Leben zurück, auch durch die Unterstützung von Büchern, die ihm vorgelesen werden und auf einem Tisch, ja einem „Kirschholztisch“ (WT, 139, 151f., 164, 207) in seinem Krankenzimmer parat liegen. Es sind zwei Bücher, die als „russische Klassiker“ klassizifiziert werden, ausführlich zitiert wird aus Leo Tolstois „Auferstehung“ vom Vorgang der „Seelenreinigung“ (WT, 121), einer sprechenden Metapher für das Wieder-Ins-Leben-Zurückkehren. Noch ausführlicher wird der Schluss von Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ zitiert, weil dieser vom Protagonisten im Gespräch mit seiner Ehefrau zu Zeiten einer gelingenden Paarbeziehung „geliebt“ wurde: „Aber hier beginnt eine neue Geschichte, die Geschichte der allmählichen Erneuerung eines Menschen…“ und von ihm gedeutet wird als „allmählicher Übergang aus einer Welt in die andere“, „die Entdeckung einer neuen, bisher ungekannten Wirklichkeit“ (WT 190), das, was dem Protagonisten nun geschieht, der Übergang vom Tod zum Leben, wie es vorher der Anfang einer Liebe, einer Hoffnung war. Der Protagonist deutet seinen Unfall mit der Totalerschütterung seines Leibes als Neuanfang, „der mir helfen will, mich endlich selbst zu fühlen“, mit dem Zitat aus Dostojewkis Roman: „Wovor fürchten sich die Menschen am meisten? Vor einem neuen Schritt. Vor einem eignen Wort.“ (WT, 207). Der Tisch mit den Büchern ist eine Einladung zu einem neuen Anfang, so kann ‚reiner Tisch gemacht werden‘. Schließlich bietet auch der Essayband „Sterne erben, Sterne färben“ einen Tisch als Ort der Kreativität, als ein gemeinsamer Ort von Schriftstellerinnen, den Frauen unter dem Stern der Venus. Die autobiographisch erinnernde und imaginierende Autorin erzählt eine solche Szene, in der Räume und Zeiten sich neu in einem Puzzle ordnen: „Erstaunlicherweise traf ich an einem meiner klaren Berliner Schreibnachmittage da oben die mur-mur-sagende Nathalie Sarraute. Da saß sie immer noch an einem Tisch, einem Pariser Kaffeehaustisch versteht sich, und war wie ich dabei, die Farben so sortieren.“ (SESF 156) Der kreative Schreibvorgang ist hier nicht das Sortieren eines Nachlasses, sondern das Entschlüsseln der Inneres ausdrückenden, lautmalerisch in allen europäischen Sprachen murmelnden („murmur“) Schriftstellerin und das Entwerfen einer „Schriftzukunft“, denn nach dem Titel des Essaybandes entwickelt sich die Autorin vom Ausgangspunkt „Sterne erben“ als Herkunft weiter zum End- oder besser Zielpunkt „Sterne färben“ als Zukunft mit einer „Ankunft in Wörtern“, wie der Untertitel klarstellt. Die Bücher, die geschrieben werden, haben jeweils „eine eigene Farbe“ (SESF 156). Damit spricht die Autorin in Solidarität mit der existentialistischen Schriftstellerin die Kreativitätsbedingungen an, sowohl auditiv das lautmalerisch-intuitive Murmeln als auch optisch die Metapher des Farbtons, der Farbenstimmung, der Einfärbung, der Farbgebung, des Färbens in der eigenen Wolle, nach Goethe sogar der „farbigen Schatten“, durch die erst Dreidimensionalität entsteht. Bei dieser Gelegenheit kann ausgehend von Bodrožićs Ästhetik der Blick ins Philosophische weiterschweifen. Nach dem Aufsatz des Münsteraner Philosophen und Schriftstellers Hans Blumenberg, „Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen“ (Studium Generale 1957), stellen Tischler, hier als Metapher für autobiographisch schreibende Schriftsteller, Tische, hier Metaphern für Lebensläufe als Lernplattformen oder Formen einer „tabula rasa“, her, vollbringen nur, was die Natur selber machen würde, wenn sie Tische wachsen ließe. Sie verhelfen als Handwerker der Natur zur Vervollkommnung ihrer selbst, nicht in sklavischer Nachahmung, sondern schöpferischer „Vorahmung“, in Tischgesprächen oder Gesprächen über Tische. Der Tisch ist dabei seit Platon ein Paradigma für einen elementaren Gebrauchsgegenstand. Er ist eine Vervollkommnung von bereits Angelegtem, hier dem ‚Erbe‘, das neu gefärbt in die Zukunft trägt. Hiervon ausgehend kann das Wortfeld des „Tisches“ erforscht werden nach der künstlerischen Methode, die Bodrožić in ihrem Essayband als „Ankunft in Wörtern“ am eigenen Leben und Sprache verschiedener Sprachen vorschlägt und modellhaft vorführt. Ausgehend von religiösen Riten stehen zwei Tische im Mittelpunkt der Liturgie als Feier der Gemeinde: das Stehpult, der Ambo als „Tisch des Wortes“, und der Altar als „Tisch des Mahles“. Menschen teilen sich mit, in ihren Worten, und sie teilen miteinander das Brot, durchaus auch als Reihenfolge der Kommunikation und des Kommunio Feierns als Gastfreundschaft gemeint. Der Dichter Peter Bichsel hat 1969 eine bekannte „Kindergeschichte“ geschrieben, in der die Benennung dieses Ortes des Miteinanders zentral ist: „Der Tisch ist ein Tisch“. An diesem Text wird in der Sekundarstufe I die Sprachreflexion geübt: Kann ein Mensch einfach die Benennungs-Sprache der Dinge für sich „ändern“? Kann ein Tisch ein Stuhl sein? Also die Sprachreflexionsfrage: Ist die Sprache gebunden oder frei? Bichsel argumentiert für die Sprachgemeinschaft auf der synchronen Ebene des Sprechens. Die Entwicklung des Wortes „Tisch“ in der Sprachgeschichte offenbart diachron einen erstaunlich hohen Grad an Denkstrukturen. (Quelle: Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in acht Bänden, Mannheim 2. A. 1995, S.3396-3398) Im Althochdeutschen bedeutet „tisc“ eine Schüssel, von lateinisch discus, griechisch diskos, es handelt sich um etwas Rundes, eine Wurfscheibe, eine flache Schüssel, der Bedeutungswandel von „flache Scheibe“ (Schüssel) zu „Tisch“ erklärt sich daraus, dass in alten Zeiten (für germanische Verhältnisse von dem römischen Historiker Tacitus überliefert, Germ. 22) zu den Mahlzeiten jede einzelne Person ihren eigenen Esstisch, der zugleich Essschüssel war, vorgesetzt bekam, eventuell mit Stuhl oder Schemel. Hier darf Erstaunen aufkommen, welch eine Lebenssituation Ausdruck findet, die Formen der Individualisierung und der Sozialisierung einschließt. (dazu Quelle: Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd.21, Leipzig 1935, ND München 1984, Sp. 506), „eine kleine hölzerne Platte auf Gestell, die gleichzeitig Eßschüssel war und bei den Mahlzeiten vor jeden gestellt wurde“ (sua cuique mensa, Kluge/ Mitzka, Etymologisches Wörterbuch, S.780) Eine Besonderheit im Spannungsfeld von Individuum und Gemeinschaft, ja gleichsam ein Mittleres, den Dual, neben Singular und Plural, offenbart die Sprache des Kroatischen, Bodrožićs Muttersprache. Im Kroatischen heißt stol (= Tisch) und ihm zugeordnet heißt der Stuhl stolica (wörtlich: „Tischin“), damit ist ein Verhältnis zwischen Stuhl und Tisch analog zum Gegensatzpaar Mann-Frau aufgebaut (vgl. Patrick Schmitt, Beeinflusst die Sprache das Denken? Hausarbeit 2003https://www.hausarbeiten.de/document/110262 <3.5.20>. Nun möchte man gern in diese Sprache eintauchen, aber diese Kunst verlangt doch viel. Einfacher ist es, in der Epoche der Romantik die Tische zu suchen, z.B. vermittelt durch Heinrich Heines nettes Gedicht vom ‚ästhetischen Teetisch‘. Dadaistisch kalauernd könnte sich die Lust entfalten, die Attribute „roman-tisch“, „thema-tisch“, „paradigma-tisch“, „seman-tisch“, auf jeden Fall „poe-tisch“ und „phantas-tisch“ zu entfalten, um das Requisit in den Räumen, als Bestandteil des Interieurs zu entdecken. Exemplarisch seine zwei Novellen gewählt, um auf den Anfang und Theodor Mundts Novellendefinition mit Hilfe des „Zu Tische Sitzens“ zurückzukommen. Es handelt sich um eine Novelle der Früh- und eine der Spät- bzw. Schwarzen Romantik, die als obligatorische Texte im Zentralabitur Deutsch in NRW sehr bekannt sind. In Heinrich von Kleists Novelle „Die Marquise von O….“ (1808) offenbart sich die Eigenart des russischen Grafen darin, dass er keine Schreibtisch für seine militärischen Depeschen benutzt, sondern er beobachtet wird, wie „ auf dazu nicht schicklichen Tischen seine Geschäfte“ betreibt. (Schroedel-Ausgabe, Braunschweig 2015, S.18). An seinem Verzicht auf das Kulturmedium Tisch wird exemplarisch seine Unfähigkeit, sein Leben kultiviert in Ruhe zu gestalten, sichtbar, er ist ein Getriebener seiner militärischen Übereiltheit und wird durch das „Gedankenstrich“-Geschehen aus der Bahn geworfen. Umgekehrt erzählt er an der höchst formell geprägten Abendtafel am Tisch der Familie des Kommandanten Erlebnisse aus Kindheit und Krankheit. Dies geschieht in einer schonungslosen Selbstoffenbarung, seine sittliche Schuld erscheint in einer indirekt-verschlüsselten Form, die bei den Zuhörenden konsterniertes Schweigen und Ratlosigkeit hervorruft (20). Parallel kann die Marquise auch oft nur schweigen und sich in eine emsig vollzogene Arbeit an Tischchen zurückzuziehen versuchen. (19, 35). Wenn etwas verlautet wird, zu der Sache, werden entweder eine“ abgeschossene Pistol“ (38) oder das besagte „Zeitungsblatt“ mit der Annonce der Marquise (38) nacheinander auf den Tisch gelegt. Am Tisch zu sitzen, vorzüglich „beim Tee sitzen“ (42) und zu lesen, ermöglicht die Auseinandersetzung mit dem Unerhörten, dem Sonderbaren, dem Zufall, dem Sturz, an dem sich die Verzweiflung angesichts der Gebrechlichkeit der Welt offenbart. Noch radikaler ist der Kontrast zwischen idyllischem Familientisch und dem Tisch der Vivisektion in E.T.A. Hoffmanns Novelle „Der Sandmann“ (1816). „Nach dem Abendessen, das alter Sitte gemäß schon um sieben Uhr aufgetragen wurde, gingen wir alle, die Mutter mit uns, in des Vaters Arbeitszimmer und setzten uns um einen runden Tisch.“ (Schroedel-Ausgabe, Braunschweig 2015, S.6) Dort wird erzählt und in der Unruhe des Vaters wird seine verdeckte dunkle Seite, seine Keller-Leidenschaft der Schwarzen Magie, vom Kind, dem Erzähler Nathanael erspürt. „Nichts war mir lieber, als schauerliche Geschichten von Kobolden, Hexen, Däumlingen u.s.w. zu hören oder zu lesen; aber obenan stand immer der Sandmann, den ich in den seltsamsten, abscheulichsten Gestalten überall auf Tische, Schränke und Wände mit Kreide, Kohle hinzeichnete.“ (8) Trotz Wiederholung („Ein Jahr mochte vergangen sein, als wir der alten unveränderten Sitte gemäß abends an dem runden Tische saßen.“, 13) geschieht doch der Unfall des Vaters mit großem Feuer und Erschrecken. Hilft da die Flucht an einen Gegentisch, den Tisch der Automatenfrau Olimpia, den sehr kleinen Tisch als ihrem passiven Dasein auf dem Präsentierteller, für den männlichen Blick. (21, 31, 33) Nathanael liebt an dieser Puppe, dass sie nicht widerspricht wie Clara, dass sie auch gar nichts zu tun hat, sondern verharrt, gleichsam gekettet an den Tisch, als Objekt ans Objekt („vor dem kleinen Tisch, auf den sie beide Ärme, die Hände zusammengefaltet, gelegt hatte“, 21; „ohne irgendeine Beschäftigung“, 31). Im Unterschied zu Olimpia, die weder stickte noch strickte (41), reagiert Clara sich entfaltend als Mensch, wenn sie erst ruhig strickt und dann empört den Strickstrumpf sinken lässt (29), eben eine aktive, ja mit eigenen Maßstäben wertende Zuhörerin. Damit bedient Nathanael eine allgemeine Erwartung an die Geschlechter, wie es die ‚vernünftigen Teezirkel‘ auch konventionell erwarten, dass die begehrenswerte Frau „beim Vorlesen sticke, stricke“ (45), das Kriterium für den Unterschied zwischen Maschine und Mensch ist aber ein „Sprechen“, das „ein Denken und Empfinden voraussetze“ und nicht Olimpias seufzendes „Ach – Ach – Ach!“ (37). Nathanaels auf Herrschaft fixierter Blick bei innerer Unsicherheit wird noch fokussierter durch den Erwerb von Perspektiven auf dem übervollen Krämertisch Coppolas (32), bis im Kampf zwischen Professor Spalanzani und Coppola am Labortisch das Produkt Olimpia zerrissen wird, eine Vivisektion, in der auch der Beobachter Nathanael zugrunde geht (42f.). Und was passiert mit uns? Fallen wir auch vom Stuhl, weil wir das Unheimliche entdeckt haben, oder wählen wir den Katzentisch, suchen wir uns einen sicheren Platz auf dem Boden, zusammen mit den Kindern dort frei zu spielen, verzichten wir darauf, uns zu erheben und am Tisch Ordnung schaffen zu können? Warum erscheint im Titel des Romans aber nicht das Wort „Kirschholztisch“ oder sogar „Kirschbaumholztisch“, sondern „Kirschholz“, was bedeutet es, diesen Stoff mit allen Sinnen wahrzunehmen, zu fühlen, zu erspüren, sich mit ihm auf die Spur der eigenen Geschichte zu begeben? Das Besondere dieses Holzes sind die sichtbaren Jahresringe, die Glätte und die rötliche Farbgebung, besonders geschätzt in der Epoche des Biedermeier, der Epoche, als man Novellen am Familientisch las und das Familienleben durch die Thematisierung des Heimeligen wie des Unheimlichen bestimmt wurde, wie Theodor Mundt die Gattung oder besser das Genre beschreibt, im Aufsatz Die Novelle als die zeitgemäße poetische Kunstform in seinem Band „Moderne Lebenswirren“ (1834). In klarem Blick auf die Zensur beschwört Mundt die Möglichkeit, in der „Stube“ als intimen Ort der Familie – und nicht im Theater als öffentlichem Raum – die Gedanken der Freiheit in Gefühle der Begeisterung für die Freiheit zu vertiefen und als Handlungsmotivation einerseits zu internalisieren und andererseits zu externalisieren. Er bindet sich verbindlich an die Freiheit, um sie ganz unbändig zu verwirklichen zu versuchen. Die Szene des Lesens und Sprechens am Tisch wird passiv zurückgenommen, bedeutet aber den Aufruf und den Aufbruch in eine Selbstverwirklichung. Mundts Motto weist in eine andere Zeit, in die heutige: „es kommt auf die Lebensperspektiven an, welche die Poesie vor den Augen der Zeit auftun soll.“ So ist Bodrozic Paul Celans Gedicht „Eine Hand“ mit den Anfangsversen „Der Tisch, aus Stundenholz“ sicherlich im Ohr. Also mündet auch das Motiv des Schreibtisches in Kants Metapher des Menschen als „krummes Holz“, das dennoch den „aufrechten Gang“ wagt, und die vom Philosophen Hans Blumenberg immer wieder beschworenen und vollzogenen Umwege beim Üben dieses Ganges gehören zur Existenz jedes Menschen, zur Anthropogenese, seinem Herauswachsen aus der Familiengeschichte heraus. Es ist eine Freude, mit Marica Bodrožić unsere Sprache neu zu entdecken und in „Wörtern“ ganz neu anzukommen, ja Platz zu nehmen, um sie auf dem Tisch auszubreiten und gemeinsam zu prüfen. Ganz „alte Gefühle“ werden geweckt, aus Kindheitstagen, aber mit sich öffnendem Blick in eine andere Färbung, keine traumatische Verunheimlichung, sondern Träume in den Farben der Freiheit. Dies kann nur gelingen mit guten korrigierend und redigierend reagierenden Gesprächs-PartnerInnen am Tisch wie Miriam Trutnau, der ich herzlich danke, und einem interessanten Schuljahr in Form von viel Corona-Schreibtisch-Home-Office mit meinem lieben Deutsch-Leistungskurs. Maria Behre, Johannistag 24.6.2020