Marica Bodrozic
Sterne erben, Sterne färben.
Meine Ankunft in Wörtern
Frankfurt: Suhrkamp 2007, München: btb Taschenbuch 2.A. Oktober 2016 (bis auf eine Anmerkung identisch mit der Erstauflage), 9,90 Euro
Unsere Literaturpreisträgerin 2020 – ein Stern am Himmel der Literatur, den wir gemeinsam entdecken, um damit unsere Welt als Kosmos zu lesen
„Habe ich eine Herkunft oder gehe ich irgendwo hin?“ (S.9) – mit dieser grundlegenden existentiellen Fragehaltung spricht eine Autorin als Ich-Erzählerin, die Klarheit und Komplexität gleichermaßen beherrscht. Dieses Werk kann als grundlegende Poetologie des Gesamtwerkes verstanden werden, da die Autorin unter explizitem Bezug auf einzelne Prosa- und Poesie-Veröffentlichungen eine unverwechselbare singuläre ästhetische Leistung entwickelt, indem sie die Zeitdimension der historisch-politischen Gegenwartsgeschichte mit ihrer Lebensgeschichte und darin mit ihrer Sprachentdeckungsgeschichte in den Akut oder Kairos einer Gleichzeitigkeit bringt.
„Glauben wir der Chronologie der Ereignisse, sei es in unseren Biographien, sei es in der Biographie der Wörter (das eine hängt mit dem anderen zusammen), verraten wir den Urgrund, die erste Farbe, den bereiten, uns reinigenden Ton.“ (S.94) Mit der Polarität des Buchtitels im Paarreim-Parallelismus „Sterne erben, Sterne färben“ benennt die Autorin die Spannung zwischen Herkunft als Ausgangspunkt und Ankunft als Zielpunkt einer auf Zukunft angelegten Lebensbewegung. Präziser und gleichzeitig poetischer lässt sich dieser Schritt zum Neuen als „Befreiung aus der Umzäunung der Biographie“ (S.9 im ersten Satz des Buches) nicht gewinnen. Die Metapher des Färbens ist kein leeres Versprechen, sondern weist auf die Kunst in der Breite einer Farbpalette, im Panorama des Regenbogens, fast könnte man diesen artistischen Akt bis zur Titel-Genitivmetapher des zuletzt geschienenen Romans „Die Wasser unserer Träume“ (2016) als Wasserfarben der Träume weiterdenken. Jedes im Gesamtwerk entfaltete „Ereignis“ kann in dieser Pole komplementär zusammenfassenden Poetologie strukturell wiedergefunden werden, jedes mit dieser Sensibilität der Wahrnehmungskunst gewonnene Phänomen wird zu einem Sprach-Erlebnis, aus jeder Szene gewinnt die Ich-Erzählerin eine abenteuerliche Wort-Schatz-Suche. Lebens- und Erkenntnisziel dieser philosophischen Poetin oder poetischen Philosophin ist die Sprache Deutsch in Form einer Schriftlichkeit, in der die Buchstaben dominieren. Deren Wirkung entfaltet sich als ‚ein Gewirk aus Bewegungen, Tönen, Gerüchen, Kopf- und Körperhaltungen, aus Augenblicken, Augenfarben, Mundregionen und Wangenleuchten‘ (S.92).
Vorzugsweise in Gedichten sieht die Sprachkünstlerin ‚Wörter-Singversuche‘ (vgl. S.27), die im Organisch-Leiblichen verankert sind. Diese subjektiv aufgeladene Gattung bedeutet aber in ihrer Nähe zu politischen Liedern ein Widerstandssignal: „Sprechen war zu Haus immer ein Widersprechen gewesen.“ (S.111), „Die Sagbarkeit der Gefühle. Die Sagbarkeit der Bilder. […] Ein Aufbäumen gegen das Untersagen, gegen das Verbot.“ (S.112) Die kritische Energie der deutschen Sprache als der zweiten Sprache, der anderen Sprache vermag die Grenzen des Ersten, des Eigenen, des Erbens aufzudecken. Gleichsam in einer „Atemwende“ erfährt die lernende Sprecherin einen „Ausfall der Stimme“ und damit die Notwendigkeit eines Neuanfangs als Ausbruch aus der Grenzen der Geburt als des schweren Erbes: „Die deutsche Sprache führte mich zielgenau an alle Lücken des ersten Lebens heran.“ (S.110)
Was sind diese „Lücken“, die Wunden, auf die unsere Aufmerksamkeit gelenkt wird? An einem Beispiel soll der Zusammenhang im poetologischen Verfahren, das die 19 Kapitel durchdringt, gezeigt werden. Es ist das zentrale Motiv des „Unterwegsseins“ als Bewegung von der Herkunft aus Unsagbaren, das Verstummen provozierenden Lebensbedingungen zur „Ankunft in Wörtern“, immer gleichzeitig als äußere und innere Bewegung in Raum und Zeit:
1) Unterwegssein als Befreiung zum Lebenssinn: „Wir Kinder sahen es ohnehin nur als Unterwegssein an.“ Der Weggang der Mutter zum Arbeiten nach Deutschland wird kritisch nicht unter dem Terminus „Gastarbeiterin“ gefasst, sondern als eine Frau, die sich „auf die Reise gemacht“ hatte, deren „Fortgehen ihr die einzige Möglichkeit bot, für etwas anderes als für die Tradition, Ehre, Hab und Gut, für die Felder und die Sittengefühle ihrer Familie zu leben“ (S.20) Im Essayband von 2019 „Poetische Vernunft im Zeitalter gusseisener Begriffe“ im philosophischen Verlag Matthes & Seitz sind diese ausbuchstabiert als Doppelung: „der Hunger des Magens und der Hunger der Sehnsucht nach einem anderen Leben, der andere Hunger, der über allem stehende Hunger nach Freiheit“ (S.165).
2) Unterwegssein als Befreiung der inneren Stimme: „In keiner anderen Sprache kann ich mir vorstellen, daß selbst die Stimme nur ein Unterwegssein ist, in einem inneren Wandergebiet, dessen Grenzen ich mir selbst ausgedacht habe“ (S.22)
3) Unterwegssein als Befreiung zur offenen Perspektive: „Jugoslawien war zusammengebrochen, noch bevor ich eine Frau geworden bin, mitten in meinem Unterwegssein als Mensch, und durch diese Veränderung verschob sich auch mein Heimatgefühl, das Zuhausesein in Menschen und Landschaften, immer mehr auf eine Luftperspektive.“ (S.96)
4) Unterwegssein als Befreiung zum Überblick: „Das fortwährende Gehen, das Unterwegssein machte alle diese Lebensbewegungen sichtbar.“ (S.98)5) Unterwegssein als Befreiung zum Energiegewinn: „Das Unterwegssein wärmte mich“ (S.102). Nun liegt die Kunst der Autorin nicht nur im Schreiben, sondern vor allem auch im Lesen. Ihre Lektüre ist unerschöpflich, dabei unprätentiös und immer integriert vermittelt, z.B. „Danilo Kiš notierte einmal, jeder Mensch sei ein Stern für sich. Um dieses Sternsein zu verstehen, muß man bereit sein, die engen Zäune der eigenen Biographie zu verlassen und sich weiter ins Offene, zu denken. Unser Wohnort ist der Kosmos, nicht unsere Wohnung.“ (S.98) So möchte man mit der Ich-Erzählerin unterwegs sein in ihrem Bücher-Kosmos, um bei Victor Hugo „das tiefe Staunen der Sterne“ (S.73) und bei Maurice Maeterlinck „Reste der Offenbarung oder Mitteilung der Sterne“ (S.97) zu vertiefen. Aber man möchte sich auch mit ihr gleichzeitig in die „Parallelwelten“ (S.91) der Physik und das aktuell die Philosophie umtreibende Konzept einer ‚Kognition der Emotion‘ entführen lassen: „Der Verstand gibt auf. Alles auf einmal zu denken vermag er nicht. Aber das Herz, ein Organ der Seele, hält all den Widersprüchen, Widrigkeiten, aller Verlorenheit und Gegenwart, allem Gehenden und Kommenden stand.“ (S.91)
Stand-Halten – das ist das Motto der Autorin, sie leistet diese Haltung auf den Ebenen des Poetischen, Philosophischen und Politischen, weil sie eine literarische Psychologie ‚auf einmal‘ entwickelt.
Also, fassen Sie sich ein Herz und seien Sie unterwegs in diesem Kosmos als neuem Lese- und Lebensraum. Wagen Sie den Aufbruch in das Abenteuer, mit dem wir an den Namensgeber des Preises, Walter Hasenclever, erinnern.
(Zum Rückbezug auf Walter Hasenclever hatte ich die Gelegenheit, in „literaturkritik.de“ (Ausgabe 01-2020) anlässlich der 100-Jahresfeier des Erscheinens der „Menschheitsdämmerung“ unter dem Titel „
Das Abenteuer des Expressionismus. Unterwegssein mit und in Walter Hasenclevers Gedichten“ eine Ergänzung vorzustellen. https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=26398)
Maria Behre, 18.02.2020