Preisträger

Axel Schneider: Vergleich von Erzählungen von Marica Bodrožić und Saša Stanišić

 


Vergleich zweier Erzählungen:

Marica Bodrožić:  TITO IST TOT (Frankfurt 2002) und

 Saša Stanišić: IN DIESEM GEWÄSSER VERSINKT ALLES    (München 2016)

Erste Vorbemerkung:

„Du musst wissen, woher du kommst.“ (James Baldwin)

„Das Studium der Vergangenheit öffnet das Gefängnis der Gegenwart.“ (Jill Lepore)

Beide Zitate amerikanischer Autoren treffen die Motivation zum Schreiben von Marica Bodrožić und Saša Stanišić.  Die Orientierung in der Gegenwart ist nur möglich, wenn wir unsere Vergangenheit kennen. Wir nehmen unsere individuelle und gesellschaftliche Geschichte immer mit, wir können ihr nicht ausweichen.

Zweite Vorbemerkung:

Die Heimat beider Autoren ist das ehemalige Jugoslawien:

Marica Bodrožić  wurde 1973 im heutigen Kroatien geboren. Sie kam mit zehn Jahren 1983 nach Deutschland. Ihre Titelerzählung TITO IST TOT erschien zusammen mit 23 anderen Geschichten im Jahr 2002.

Saša Stanišić kam 1978 in Bosnien zur Welt und übersiedelte 1992 mit 14 Jahren nach Deutschland. Sein Erzählungsband FALLENSTELLER enthält die Kurzgeschichte IN DIESEM GEWÄSSER VERSINKT ALLES als zwölften und letzten Text. Erschienen ist dieser Band 2016.

Meine These lautet, dass beide Autoren im Kern dieselben Fragen diskutieren:

  • Welchen Lebensentwurf will ich realisieren?
  • Welchen Bewegungsspielraum gibt mir meine Geschichte?

Für beide ist Erzählen Erinnerungsarbeit, und in den beiden angesprochenen Geschichten ist der Großvater der jeweilige inhaltliche und emotionale Mittelpunkt. Das Berichten von Schicksalen wie dem des Großvaters und der Landschaft, die HEIMAT war, könnte bei der Suche nach Orientierung für das eigene Leben helfen.

Stanišić bietet drei Definitionen von HEIMAT an:

„…ist dort, wo niemand sein kann, außer man selbst …

das ist doch nur so ein Gefühl, oder?“ …

ist dort, wo man sich am wenigsten vornehmen muss.“ (S. 191 und 193)

Wie Marica Bodrožić zu diesen Bestimmungen steht, das ist eine lohnenswerte Frage, die ins Zentrum ihres Schreibens führt. Definition eins passt in meinen Augen auf ihren Erzählungsband, weil die konsequente Subjektivität des Erinnerns und Schreibens hier fassbar wird.

Beide Autoren diskutieren weitere Schlüsselthemen in verblüffender Parallelität:

Die Einsamkeit des Einzelnen bestimmt die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sie geht zusammen mit dem Kampf gegen eine drohende Orientierungslosigkeit. Manchmal bleibt dann nur ein ironischer Kommentar wie bei Stanišić: „Das Schöne ist, dass das Leben nicht weiß, was es mit mir anfangen soll.“ (S.180)

So wird das Schreiben zur Selbstvergewisserung, zur Suche nach der eigenen Identität, auch gerade in Auseinandersetzung mit der Frage des Lebens und des Todes des Großvaters. Marica Bodrožić schließt mit den Worten: „So schmerzlich sein Tod war, so gut war sein Zeitpunkt.“ (S.17) Saša Stanišić lässt dem Großvater ein neues Hemd zukommen, das der sterbende alte Mann als Geschenk seines Enkels als eine seiner letzten Aktivitäten anzieht. (S.368)

Nach diesem ersten Blick auf Schlüsselthemen der beiden Autoren hier die Inhaltsangabe der beiden Geschichten: TITO IST TOT beschreibt die Tage der Beerdigung des jugoslawischen Herrschers Tito und die Fassungslosigkeit der Menschen in einem dalmatinischen Dorf. Bodrožić stellt uns ihren Großvater vor, der die Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs mit seinen Erschießungen erlebt hat. Er ahnt, dass die Neuorientierung nach Titos Tod mit Auseinandersetzungen verbunden sein wird, die Opfer fordern.

Jugoslawien war ein Staat, aber keine Nation – die verschieden Volksgruppen haben jeweils ihre eigene Geschichte und befreien sich jetzt vom Zwang des Zusammenlebens. Neue Gesichter und Fahnen erscheinen, auch der Erzählerin als junger Schülerin entgeht nicht, dass die Traumatisierungen des Großvaters wieder aufbrechen – zum Glück stirbt er vor der brutalen Durchsetzung neuer politischer „Wahrheiten“. Vorbildlich für die Enkelin ist der Mut ihres Großvaters, der sich im Zweiten Weltkrieg weigerte, gefangene Soldaten zu erschießen. Widerstand in Ausnahmesituationen ist also möglich, das Schlimme ist nur, dass die Dämonen der Grausamkeit nicht besiegt sind, sondern nach dem Tod Titos wiederkommen.

IN DIESEM GEWÄSSER VERSINKT ALLES erzählt auf zwei Handlungsebenen:

Zunächst einmal wird die Fahrt des Protagonisten durch die Provence und Paris mit zwei Freundinnen geschildert. Durch einen Anruf der Mutter aus der bosnischen Heimat erfährt die Hauptperson, dass sein Großvater im Sterben liegt. Die zweite Ebene sind jetzt die Erinnerungen an das gemeinsame Leben mit diesem Mann in der bosnischen Heimat. Nach dem frühen Tod des Vaters war der Großvater die seelische Rettung für die junge Halbwaise, denn die Mutter war in ihrem Leid zur Erziehung nicht mehr fähig: Das Gewässer des Titels ist das unaufhörliche Weinen der Mutter. Offiziell ist der Vater ertrunken, deshalb bringt der Großvater dem Erzähler das Schwimmen bei und nimmt ihm die Angst vor dem Wasser mit einem blauen Hemd, das er auf der Wasseroberfläche wie ein Floß ausbreitet. Mit diesem Bild vor Augen schickt der erwachsene Protagonist als Dank an den sterbenden Großvater ein Maßhemd als letzten Gruß. Er hat diesem Mann zu verdanken, dass er in den Wirren des Bürgerkriegs nach Deutschland fliehen konnte und jetzt ein erfolgreicher junger Unternehmer ist. Die Erinnerung an den Großvater ist Geschenk und Bürde zugleich, denn er ist nie in seine Heimat zurückgekehrt.

Fazit

Beide Autoren wissen, dass die Dämonen in den Menschen sind und nicht in einer Ideologie oder Theorie – Politik wird zum Mittel, um zur Macht zu kommen. „In jedem Dorf gibt es schroffe, herzlose Menschen.“ (S.13, TITO IST TOT)

Manche Menschen aus unserer Vergangenheit sind seit Jahren nicht bei uns, trotz ihrer Abwesenheit sind sie in unserem Denken und unserer Vorstellungswelt präsent und anwesend. Das Finden unserer Identität findet auch über die Auseinandersetzung mit der Bedeutung dieser Menschen für uns statt.

Marica Bodrožić und Saša Stanišić  sind sich einig: Der weltlichen Gerechtigkeit sind enge Grenzen gesetzt. Mörder werden viel zu oft nicht zur Rechenschaft gezogen, Unrecht bleibt ungesühnt. Erschreckend ist zum Beispiel, wie schnell aus Kommunisten überzeugte Nationalisten werden können. Will ich dann in ein solches Land des Hasses zurückkehren?

Für Bodrožić gibt es keinen gerechten Krieg: „ …denn schon bald sollte wieder ein Krieg ausbrechen und nicht nur diejenigen trennen, die sich hassten, schlimmer: auch jene, die sich liebten. Warum das so war? Weil der Krieg Nichts und Niemanden verbindet.“ (S.10) Es bleiben die Tränen der Menschen, die „bis in die Adria hinein“ fließen (S.11). Und die Menschen wissen: „Sicher lag das an den Augen des großen Bruders, denn wieder einmal bewachten sie das Geschehen. Auch wenn sie jetzt einem anderen Herrn gehörten, es waren die üblichen großen Augen, nur dass er jetzt einen anderen Namen trug.“ (S.14) Diese Anspielung an Orwell und seine These von der kompletten Überwachung in einer Diktatur besitzt für Marica Bodrožić Aktualität.

Der amerikanische Jurist und Politiker Clarence Darrow formulierte: „Die Welt ist finster, aber sie ist nicht ohne Hoffnung.Bodrožić und Stanišić gehen entschlossen der Frage nach: Worin liegt diese Hoffnung? Sie verbinden die Suche nach kraftgebender Hoffnung mit der Reflexion, wo Wahrheit zu finden ist. Für beide nicht im Bereich des Glaubens, sie sind und bleiben Anhänger der Vernunft, auch wenn sie erlebt haben, dass Propaganda politische Macht und Mehrheiten in angebliche Wahrheit verwandelten.

Diese Erzählungen helfen, den Mut zur kritischen Prüfung des persönlichen und gesellschaftlichen Geschehens zu finden.

Axel Schneider, August 2020

 


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