Feuilleton

Markus Orths: MAX

Markus Orths: MAX (München 2017) – eine Rezension

Drei Vorbemerkungen:

Es geht nie um Einzelheiten, es geht immer ums Ganze.“ (S.534)

In diesen Satz legt Max Ernst seine künstlerische Überzeugung:
Löse dich von den Mosaiksteinen deiner Arbeit und deines Lebens, von Bruchstücken, sieh immer auf das Ganze deiner Botschaft, die schlicht lautet: Immer der eigenen Stimme folgen. Keine Kompromisse machen. In Bewegung bleiben.
Eigentlich könnte der Maler Max den Dichter Wolf Biermann zitieren: „Nur wer sich verändert, bleibt sich treu.“

„My door will never be darkened by your shadow again.“ (S. 271)

Der Vater von Leonora Carrington verstößt mit diesen Worten seine Tochter, die in Paris mit Surrealisten und anderen Malern leben und arbeiten will. Mit zwanzig Jahren verlässt Leonora England und wird mit ihrer Beziehung zu Max eine der interessantesten Personen des Romans. Sie heiratet den deutschen Maler nicht, aber eigentlich kann sich Max nach den beiden Sommern im Landhaus an der Ardèche nie mehr von ihr lösen.

Dada: keine Bewegung, nein, eher eine spontane Regung.“ (S. 73)

Max Ernst wird sich nie von einer Gruppe vereinnahmen lassen, er wird immer auf seine Spontaneität vertrauen, er wird zumindest bis 1945 keine persönlichen Rücksichten nehmen und deshalb Freunde für immer oder zeitweise verlieren.
Erst mit seiner Beziehung zu Dorothea Tanning legt er eine neue Gangart ein. Kompletter Rückzug auf eine kontinuierliche Beziehung zu zweit, fernab in Arizona von jeder Metropole, größte Einfachheit des Lebensstils, verbunden mit intensiver Arbeit und neuen Erfahrungen.

 

Das waren drei Vorbemerkungen zum bemerkenswerten Roman von Markus Orths. Seine Gliederung des Buches nach den für Max entscheidenden sechs Frauenpersönlichkeiten funktioniert. Es stört nicht, dass er als Erzähler seine Sympathien und Reserven für Einzelne spüren lässt.
Der Reihe nach:
Das tragische Schicksal von Lou Straus-Ernst, die in Auschwitz stirbt, ist eine packende Geschichte, die das Elend des Exils für deutsche und jüdische Persönlichkeiten anschaulich macht, ohne falsch zu moralisieren. Angesichts der menschenvernichtenden Barbarei des Nationalsozialismus ist sachliche Schilderung des Untergangs die richtige Antwort.

Gala Eluard (Dali) straft der Autor mit Ironie und abwertenden Beschreibungen. Sie kreist in maßloser Selbstverliebtheit nur um sich, sie ist letztlich gerade für Paul Eluard ein Unglück. Sie muss raus aus dem Leben von Max, damit andere Freundschaften und Beziehungen möglich bleiben.

Marie-Berthe Aurenche ist eine tragische Gestalt, die in ihrer Zerrissenheit zwischen katholischem Glauben und exaltiertem Gebaren in der Künstlergruppe nicht zu sich findet.
Sie steht immer außer sich, sie findet in ihrer maßlosen Abhängigkeit von Max nie zu sich selbst, weder künstlerisch noch emotional. Erich Fromm in seiner Abhandlung über sado-masochistische Beziehungen fände hier ein reiches Feld der Betätigung. Für Marie-Berthe ist die Ehe mit Max Ernst ein Unglück.

Leonora Carrington ist der Gegenentwurf zu Marie-Berthe. Stark, rücksichtslos, besitzergreifend, dabei unabhängig, radikal in jeder Hinsicht. Das Sprengen der Beziehung zu Max durch die Verhaftungen des Künstlers durch die französischen Behörden 1939 und 1940 wirft sie komplett aus der Bahn. Nur in der späteren mexikanischen Distanz kann sie als Künstlerin, Mutter und Frau überleben.

Peggy Guggenheim ist in ihrer Egozentrik eine zweite Gala. Auch hier ist das Ende der Beziehung schon beim Beginn vorprogrammiert. Sie rettet Max vor den Nazis, gibt ihm einen neuen Anfang in den USA, aber sie verlangt seine menschliche und künstlerische Unterwerfung. Dazu kommt ihr gnadenloser Geschäftssinn; ihre Sammlung kauft sie noch im Kriegseuropa zusammen, sie will wirtschaftlichen, künstlerischen und menschlichen Einfluss. Wer sie verlässt, der wird bestraft – so auch Max nach der Trennung, der dann kaum noch etwas in den USA verkaufen kann.

Dorothea Tanning wird für 33 Jahre die Partnerin und Frau für Max Ernst – für sie bleiben im Roman von Orths im Grunde nur wenige Seiten am Schluss. Bei ihr ändert Max sein Leben radikal, er lebt die künstlerische und persönliche Zweisamkeit. Mit Mitte Fünfzig ist der Sturm und Drang vorbei, die persönliche Vervollkommnung rückt ins Zentrum, sein Werk will er vollenden, und Dorothea liefert ihm die vorbehaltlose Zuwendung, die er braucht. Alle neuen Ideen, ob in Europa oder wieder in Arizona, trägt sie mit. Dorothea bleibt als Persönlichkeit erstaunlich blass, Orths arbeitet sich an der vierten Ehefrau von Max Ernst nicht ab. Schade.

Fünf Thesen zur Einschätzung des Romans:
1. Wer die Surrealisten verstehen oder zumindest sich ihrem Denken und Fühlen annähern will, für den ist MAX obligatorisch.
2. Selten wurde so kundig über die Exilsituation in Europa im Zweiten Weltkrieg geschrieben – chapeau!
3. Nach der Lektüre will der Leser sofort ins Max-Ernst-Museum, in den Weinberg bei Saint Martin, in die Wüste Arizonas. Kompliment!
4. Der Künstler Max Ernst mit seinen Bildern wird verständlich, biographische Details werden mit zeitgeschichtlichen Ereignissen verknüpft, also schlagen wir sofort einen Kunstband auf, um die Bilder zu sehen.
5. Wer verstehen will, was die Adjektive exzentrisch, kreativ und wandlungsfähig bei einem Menschen bedeuten, der lese MAX.

Kritisches am Schluss:
Warum so viele Substantive, Verben und Adjektive in einem Satz? Warum dieser Sprachrausch, wenn doch der Sturm der Gefühle und der Kreativität genügen?
Deutlich wird auch, dass der Autor bis hin zum Rotwein, dem Tresterschnaps Marc und dem Kartenspiel Belote frankophil ist. Da kommen die Engländer und Amerikaner schlecht weg … schade.
Und natürlich liebt Orths den Cliffhanger, zum Beispiel, wenn es um die Schicksale Leonoras und Lous geht. Hier ist konsequentes Erzählen bis zum Schluss der Biographie die bessere Lösung.

Fazit:
In der Zeit der Biopics wird die Verfilmung in französisch-deutscher Kooperation kommen, hier die Prognose der Besetzung:
Ulrich Tukur ist der alte Ernst, Lars Eidinger der junge Künstler in den besten Pariser Jahren.
Vier Ehefrauen: Karoline Schuch ist Lou, Juliette Binoche ist Gala, Adele Neuhauser spielt Peggy (!!) und Catherine Deneuve in ihrer letzten Rolle sehen wir als Dorothea, die Ernst in den letzten Jahren begleitet.
Musik von Strawinsky, gedreht wird in Köln, Paris und in Südfrankreich.
Regie??? Unbedingt Schomburg nehmen, er ist der Mann für surrealistische Einspielungen.
Jetzt brauchen wir nur noch einen Geldgeber …

Axel Schneider, Oktober 2020

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