Feuilleton

Markus Orths: Picknick im Dunkeln

Markus Orths: Picknick im Dunkeln (München 2020) – eine Rezension

Gelesen und vermittelt von Axel Schneider

 

Herzhaft gelacht ist halb gewonnen –
wie Stan Laurel Thomas von Aquin kurierte und das Denken lernte

Es gilt, den ungewöhnlichsten Beitrag zum Hegeljahr zu besprechen, den neuesten Roman von Markus Orths, der den hegelianischen Dreischritt These (Stan Laurel), Antithese (Thomas von Aquin) und Synthese (zwei „ganze“ Personen am Ende ihres Lebens) zur literarischen Wirklichkeit führt. Ob allerdings das Wirkliche hier auch das Vernünftige trifft, da denke ich als Leser noch einmal nach. Das Ergebnis meiner Reflexion folgt umgehend auf diese beiden Seiten.

Der Plot ist schnell erzählt:
In einem rätselhaften dunklen Tunnel begegnet Stan Laurel (der personale Erzähler) dem mittelalterlichen Philosophen und Dominikanermönch Thomas von Aquin, 700 Jahre werden in der persönlichen Auseinandersetzung der Protagonisten überbrückt, beide erfahren ihre Defizite und die Möglichkeiten der persönlichen Heilung. Orths braucht dazu in klarer Strukturierung 50 Kapitel und 237 Seiten.
Hier der deutliche Hinweis an künftige Leser, dass es Längen zu überbrücken gilt, bis die abschließende Pointe des Romans manifest ist.
Meine Lektüre und die anschließende Reflexion arbeitet fünf Aussagen von Markus Orths heraus, die er mit dem Selbstbewusstsein des sein Handwerk beherrschenden Schriftstellers den Lesern vermittelt:
• Ich kenne alle Filme von Stan Laurel und setze beim Leser voraus, dass er genauso ein Fan von „Dick und Doof“ ist wie ich. (Mein Kommentar: Mutig!)
• Thomas von Aquin ist primär aufgrund seiner Biographie von Interesse. Die wenigen erwähnten philosophischen Inhalte seiner Schriften dienen lediglich der Illustration der Maxime: Denken ist das entscheidende Anthropinon.
(Schade! Hier wäre zum Thema Gottesbeweis deutlich mehr möglich, ohne zu langweilen.)
• Die großen Sinnfragen des menschlichen Lebens wie die eines erfüllten Lebens und der Angst vor dem Tod behandle ich mutig in Romanform.
(Kommentar: Das erhöht die Lesbarkeit, müsste aber exemplarisch mehr in die Tiefe gehen.)
• Die Metapher von Dunkelheit und Licht und die Suche nach Erkenntnis und Realisierung persönlicher Freiheit bearbeite ich ohne Rekurs auf biblische Leitplanken.
(Das wird dem Denken des Theologen nicht gerecht.)
• Wer diesen Roman liest, der steht wieder mitten im Leben, zu dem Denken und Lachen entscheidend gehören.
(Richtig ist hier die Betonung der Begegnung mit anderen Menschen.)

Kunstvoll verknüpft Orths verschiedene Motivstränge; so wird der Nihilist Stan durch die Dialoge mit Thomas zum Akzeptieren von Vergänglichkeit und Altern geführt.
Der mittelalterliche Philosoph stellt sich der Verkürzung eines nur durch ‚Fressen und Denken’ dominierten Lebens und gewinnt in der Schluss-Szene die Lebensfreude zurück, die ihm von Familie und Mönchen der Dominikaner ausgetrieben worden war. All das gut hegelianisch unter dem Motto: Die Moderne ist eine Welt der Erinnerung.
Hegels ergänzendes Diktum, dass letztlich nur die Gegenwart ‚frisch und alles andere fahl und fahler’ sei, gewinnt in den zahlreichen Filmerinnerungen Stans Relevanz. Hier hätte der Autor mehr Feuer aus den Dialogen der beiden schlagen können, denn die Verständigung über 700 Jahre hinweg birgt genügend komische und nachdenkliche Elemente.

Überzeugend ist die Botschaft des Schlusses, als beide Protagonisten sich der Realität des Todes stellen:
Es ist nie zu spät für eine neue Erfahrung, die mein Leben ‚rund’ macht, aber dafür brauche ich den Gesprächspartner. Stan hatte Ollie als Begleitung, Thomas Reinald als Mitarbeiter.
Ohne das Vertrauen dieser Menschen und ihre Güte wäre persönliches und berufliches Handeln nicht geglückt.
Deshalb die Pointe am Schluss:
Auch in deinen letzten Stunden bist du nicht allein, du kannst dich fallen lassen – ein Gottesbeweis (?) der besonderen Art, der Thomas in seinem Vertrauen auf die Güte des Schöpfers Recht zu geben scheint, aber auch den Agnostiker Stan ruhig werden lässt.

Positiv ist eine weitere unmissverständliche Botschaft der Erzählung, nämlich, dass Ausweglosigkeit im menschlichen Leben nicht existiert.
Die beiden Heilmittellauten hier Denken und Lachen.
Dazu bedarf es in unserem Roman der Dunkelheit eines Tunnels, um das Licht von Humor und menschlicher Zuwendung heller scheinen zu lassen – wenn auch manchmal ein brennender Daumen aus der Stummfilmzeit hinzukommt, um ein kleines Licht der Orientierung und des Erkennens anzuzünden.
Aristoteles mit seiner Auslegung der Komödie gehört genauso zum Lehrstoff des praktischen Lebens wie Chesterton mit seiner Thomas-Biographie. Dabei verliert der Roman manchmal die intellektuelle Leichtigkeit, mit der das Schwere letzter menschlicher Fragen gesagt werden will.
Und hier ist Stan einfach überfordert; seine filmische Rolle und die problematische Privatperson kommen nicht so zur Übereinstimmung, dass der Leser spürt:
Leben in der Gegenwart ist pure Freude, persönliche Erinnerungsarbeit ist nicht zerstörerisch, auch die Frage nach dem Jenseits darf nicht unser lustvolles Engagement im Diesseits überschatten.

Fazit:
Die Renaissance des herzerfrischenden Lachens gelingt.
Die Freude am Denken, aber auch am praktischen Leben ist spürbar und führt zur fulminanten Schluss-Szene des Romans, in der Thomas wieder zum fröhlichen Kind wird.
Warum bleibt bei mir trotzdem nach der Lektüre ein Gefühl der Unruhe?
Um mit Lukacs zu sprechen: „Transzendentale Obdachlosigkeit“ erfordert in ihrer Bewältigung mehr als das Lachen eines Stummfilmstars und das Denken und Fressen eines Philosophen.
Orths spürt das, wenn er am Schluss bei Wittgensteins Diktum des Schweigens landet.
Denn es gibt einiges, wovon auch ein Roman nicht sprechen kann.

Kurzum:
Die Filme Stan Laurels schaue ich mir in Auswahl gern wieder an, aber Thomas von Aquin wird nicht in meinem Lektürekanon auftauchen.
Offensichtlich sind einige Stoffe der Vergangenheit ‚ausgesungen’, ein Roman kann nicht mit ihrer Hilfe formulieren, was privat oder gesellschaftlich sein soll. Die Welt und der Mensch bleiben rätselhaft, aber ein gutes Buch kann den Bruch zwischen Tod und Leben, zwischen Mensch und Natur zumindest vorübergehend heilen, davon ist Orths überzeugt.

Axel Schneider, November 2020

 

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