Michael Köhlmeier

Michael Köhlmeier Aus seiner Dankrede zur Verleihung des Hasenclever-Literaturpreises 2014 (WHG-Jahrbuch 2014/2015, S. 18 f.) „Wenn ich mein Leben mit dem des Walter Hasenclever vergleiche, mein Leben und die geografische Umgebung dieses Lebens, so darf ich, da ich nun 65 Jahre alt geworden bin, satt und selbstsicher behaupten: Ich lebte in gnadenvollen Zeiten … Ich lebte als ein Bevorzugter, als ein Begnadeter, ich sage das trotz aller tragischen Momente in meinem Leben. Ich durfte mit vierundzwanzig Jahren die radikalsten Ansichten vertreten. Ich durfte in Bertolt Brechts Stück Die Maßnahme einen diskutierenswerten Beitrag zu einer revolutionären Moral erkennen, ohne dass mich jemand zur Rechenschaft gezogen oder, schlimmer, beim Wort genommen hätte. Als Walter Hasenclever vierundzwanzig Jahre alt war, brach der Krieg aus, der später der Erste Weltkrieg genannt wurde. Er hat sich freiwillig gemeldet. Er hat diesen Krieg begrüßt. Wie so viele andere. Seine Euphorie hielt allerdings nicht lange. Bereits ein Jahr später begegnet uns ein überzeugter, sich offen und laut bekennender Pazifist … Mir hat man das Leben gelassen. Damit meine ich: Man hat es mir überlassen, wie ich lebe. Wer auch immer dieser ‚man’ ist. Dem Walter Hasenclever hat man das Leben genommen. Und wir wissen, wer dieser ‚man’ ist. Es waren die verdammten Nazis. Sie haben seine Bücher verbrannt, sie haben ihn vertrieben. Lange bevor er sich das Leben genommen hat, haben sie ihm das Leben genommen. Was hätte aus ihm werden können! Was hätte er geschrieben, wenn ihm seine Zeit nicht ein Thema diktiert hätte, wenn nicht seine Zeit dem Verbrechen günstig gewesen wäre? Einer wie ich, der hat nicht mit der Zeit zu kämpfen, in der er lebt, mir diktiert die Zeit kein Thema. Ich darf schreiben ohne Thema. Ich darf den Hut ziehen vor der Poesie. Ich lebe in der Bel Etage der Schriftstellerei … Ich stelle mir das Jenseits als eine nach Ständen organisierte Siedlung vor. Da gibt es das liebliche Tal der Gärtner, und da gibt es den Hügel der Schriftsteller. Ganz oben wohnt Shakespeare. Auf dem Weg dorthin liegt irgendwo der Bungalow von Walter Hasenclever. Ich klopfe an seine Tür – er öffnet, ich trete ein, stelle mich vor und sage, ich habe im November 2014 jenen Preis bekommen, der seinen Namen trägt. Er bittet mich, Platz zu nehmen, und dann trinken wir einen …“