Walter Hasenclever: Münchhausen Gestern geschrieben, heute gelesen, für morgen empfohlen
Mit diesem Klischee wurden mehrere Generationen bedient: Münchhausen fürchtete nicht Tod noch Gefahr: Er warf eine noch nicht explodierte Bombe zum Feind zurück, das Champagnerglas in der Hand. Hasenclever stellt einen ganz anderen Münchhausen vor.
Ein Siebzigjähriger heiratet eine Siebzehnjährige – kein Plot aus Hollywood, sondern der Kern der Tragikomödie MÜNCHHAUSEN von Walter Hasenclever. Mit Richard Gere oder Uwe Ochsenknecht könnte das gut ausgehen, mit dem Lügenbaron aus Bodenwerder leider nicht: Er zerbricht an der Untreue seiner Frau, trotzdem ist diese Heirat das große Abenteuer seines Lebens. Hasenclevers Biograph Bert Kasties weist mit Recht darauf hin, dass Hasenclever in seinem Stück die Kraft der Fantasie feiert. MÜNCHHAUSEN ist kein politisches Drama, auch wenn es Seitenhiebe auf die Französische Revolution und die politischen Vorstellungen zahlreicher Aufklärer gibt. Der Protagonist feiert die Abkehr von der profanen Wirklichkeit und beschwört eine „gute, alte Zeit“ der Liebe und der Gemeinsamkeit hinter den Mauern von Bodenwerder. Wenn da nur nicht das Alter wäre… Es gibt fünf Gründe, dieses Schauspiel in fünf Akten, das 1934 in Nizza verfasst wurde, im Jahr 2020 zu lesen: 1. Die Dialoge sind schnell, witzig, pointiert und unterhalten den Leser nicht nur geistvoll, sondern legen den Finger in mache aktuelle Konstante wie männliche Eitelkeit. Die Herrenrunde in Bodenwerder, die Anfang und Schluss des Stückes bestimmt, könnte es auch heute geben: Selbstgefälligkeit kommt zu Fresssucht, Bonhomie zum Weinkonsum, der Blick auf junge Damen nicht ausgenommen. Der vermeintliche Hagestolz Münchhausen glaubt an das Abenteuer der ewigen Jugend und nicht an sein wirkliches Alter. Raus aus der Einsamkeit durch die Heirat der siebzehnjährigen Bernhardine, obwohl er doch im ersten Gespräch noch altersweise formulierte: „ Mein Fräulein, in meinen Jahren ist die Einsamkeit ein Glück. Ich habe so viel Dummheit gesehen, ich habe an meiner eigenen genug.“ (S.213) 2. Für den Kenner der deutschen Literaturgeschichte hält Hasenclever unzählige Bonbons bereit: Der Verleger Göschen wird in seiner Arroganz von Münchhausen abgehalftert, der Baron hat nicht den Ehrgeiz, mit seinen Erzählungen als Buch berühmt zu werden. Seine erfundenen Geschichten sind ihm Lebenselixier und nicht auf finanziellen oder literarischen Erfolg ausgerichtet. Auch Goethe und Schiller bekommen ihr Fett weg, wenn keine Bücher mehr geschrieben würden, dann „gäbe es weniger Unsinn in der Welt. Das meiste, was geschrieben wird, ist gelogen. Wenn ich die Wahrheit sage, glaubt mir ja keiner.“ (S.203) 3. Was macht das Leben lebenswert? Das Lachen. Das Abenteuer. Das Feiern mit Freunden. Die Natürlichkeit der Jugend. Und das Glück der Liebe. In seiner Liebe zu Bernhardine lügt Münchhausen zum ersten Male nicht und bezahlt das letztlich mit dem kompletten Zusammenbruch auf allen Ebenen. „Es gibt keine Wahrheit. Es gibt nur den Rausch.“ (S.228) Die junge Braut sagt es ihm voraus: „Aber Herr von Münchhausen, Sie ruinieren sich ja für mich.“ (S.229) In der Hochzeitsnacht schaut der alte Baron auf seine junge und schöne Frau und sagt: „Weißt du eigentlich, was Liebe ist?…Dass alles, was Du mir je antun wirst, nicht die Seligkeit dieser Stunde aufwiegt. Dass ich am Ende meines Lebens sagen kann: Gott, ich danke dir. Es hat sich gelohnt.“ (S.256) 4. Im vierten Akt zieht der Prinz in Pyrmont die englische Übersetzung der Geschichten des Barons aus der Tasche, an denen der völlig verschuldete Münchhausen nicht einen Taler verdient hat. Die junge Baronin lässt sich verführen, der alte Ehemann findet die Erzählungen in der leeren Loge seiner Frau und erlebt sich als lächerliche Figur. Er wird belogen und betrogen, der Lügenbaron hat als Causeur ausgedient: „Ein alter Mann hat nichts mehr zu hoffen. An ihm geht das Leben vorüber.“ (S.274) Was ist Wahrheit? Dass selbst ein Münchhausen nicht auf Dauer an der Wirklichkeit des Betrugs, der Enttäuschung und des Ruins vorbeikommt. 5. Die Treue in diesem Schauspiel wird durch das Faktotum Rösemeyer aufs Lebendigste ausgedrückt. Er pflegt den sterbenskranken Alten, die alten Saufkumpane kommen für ein Essen zurück und selbst Bernhardine nimmt von ihm Abschied. Das führt zum augenzwinkernden Fazit Hasenclevers: „Das deutsche Volk, mein Lieber, ist das Volk der Märchen und Abenteuer…Deutschland – das ist Münchhausen. Wie er leibt und lebt.“ (S.277) Dieses Stück unterhält vorzüglich, es hat wenig Staub angesetzt, und was so alles möglich ist zwischen Mann und Frau, das weiß Hasenclever genau – und wir dürfen mitdenken und mitlachen! Alle Zitate sind dem Band II.3 der Gesamtausgabe Hasenclevers von A. Zurhelle und C. Brauer (Mainz 1990) entnommen. Axel Schneider