Poetische Vernunft im Zeitalter gusseiserner Begriffe
Rezension von Marica Bodrožićs Essayband ((Matthes & Seitz, Berlin 2019)
Poetische Vernunft im Zeitalter gusseiserner Begriffe
Eine grundlegende Gefühlstheorie
Marica Bodrožić hat im Sommersemester 2017 Poetikvorlesungen an der TU Braunschweig gehalten, die im Rahmen der „Ricarda-Huch-Poetikdozentur für Gender in der literarischen Welt“ stattfanden. Die seit 2015 durch Stadt und Hochschule verliehene Auszeichnung im Gedenken an die 1864 in Braunschweig geborene Ricarda Huch umfasst ein Preisgeld und einen dotierten Lehrauftrag.
Der Titel „Poetische Vernunft im Zeitalter gusseiserner Begriffe. Essays“ setzt mit der Veröffentlichung in der sehr renommierten Reihe „Fröhliche Wissenschaft“ aber einen klaren Akzent auf die Philosophie. Der Schwerpunkt liegt mit dem Haupttitel „Poetische Vernunft“ auf einer Gefühlstheorie.
Bodrožić bedient allerdings hier nicht ein neumodisches Terrain, wie die „Affect Studies“ als Pendant zu Gender Studies. Die Autorin arbeitet vielmehr an einer verbindlichen philosophischen Grundsatzreflexion, eben einer ‚poetischen Vernunft’. Dabei grenzt sie ihr Anliegen gegen zwei Seiten ab, sowohl gegen eine bloß poetische Phantasie, nur immanent im Ästhetischen ruhend, als auch gegen eine Vernunft, die nur mit den bekannten Attributen in Zusammenhang gebracht wird, also keine theoretische, reine, praktische, zynische, logozentrierte, ethnozentrierte, andre, weibliche, schwarze, sprachliche oder Ähnliches.
Diese Methode ist sprachkritisch-zeitreflexiv, wie es der Untertitel ‚Zeitalter gusseiserner Begriffe’ benennt. Diese Formulierung fordert heraus: Ist es die ‚Zeit der gusseisernen Lerchen’, wie Peter Huchel die politische Funktionalisierung der DDR-Literatur 1956 nannte? Der Chefredakteur der Kulturzeitschrift Sinn und Form, der das Ende seiner liberalen Gestaltung des Organs mit dem Tod Bertolt Brechts kommen sah, kritisierte eine politische Vereinnahmung der Poesie zur Indoktrination, die durch die Partei mit den Parolen und Pionier-Losungen von Frieden und Völkerfreundschaft vorgegeben war. Die Metapher des alten Werkstoffes des Gusseisernen zielt auf die immergleichen Gedanken, die gleichsam durch die gusseisernen Mühlen als Gerätschaften des Funktionalismus gedreht werden und dann nur noch Schablonen, Klischees bilden.
Als die ‚gusseisernen Begriffe unserer Zeit’, die in großen Lettern die Medien- und Kulturlandschaft in Einheitsprägung abgenutzter Münzen bestimmen oder auch mit einem ewig gleichen Geläute gusseiserner Glocken in aller Grobheit verkündet werden, sieht Bodrožić ‚Gleichberechtigung oder Solidarität’. Diese Ziele sind für sie ‚entleert’, ‚geeicht’, Demokratie unterwandernde ‚Suchtmittel’ aus dem ‚Bedürfnis nach billigem Glück’ und ‚falscher Geborgenheit’. Das ‚Gift der Parolen’ muss den Zielen entzogen werden durch eine ‚Reinigung in der Reise ins eigene Innere’, sie müssen dadurch wieder ins ‚Selbst-Denken’ und ‚Selbst-Empfinden’ zurückzuführen, ins politisch Lebendige, das sie mit Hannah Arendt unter Bezug auf die Schrift „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ im Erhalt der Pluralität sieht, indem sie gegen die Zerstörung dieser im fixierenden Festhalten an Begriffen kämpft.
Dabei geht Bodrožić sprachphilosophisch mit Wilhelm von Humboldt und Benjamin Whorf entschieden vor, indem sie die Einheit von Sprechen und Denken betont und auch die Reihenfolge ‚vom Sprechen zum Denken’ berücksichtigt.
„Das lernte ich erst viel später und zu jenem Zeitpunkt, an dem ich mich auszudrücken begann, ein Sprachwesen wurde, also ein denkender Mensch.“
In welcher Weise kann eine sprachkritische Gefühlstheorie diese Begriffe kritisieren, ihren Wahrheitsgehalt prüfen und ihre Aussagekraft durch die destruktive wie konstruktive Kritik der poetischen Vernunft in die richtige Richtung lenken?
Nun hat Bodrožić mit ihrem in der breiten Lese-Öffentlichkeit erfolgreichsten Roman „Kirschholz und alte Gefühle“ schon 2012 die Kindheit in Dalmatien als ‚altes Gefühl’ mit dem Leben in Paris und Berlin als ‚neues Gefühl’ gleichwertig aufs Tapet gebracht, symbolisch auf den Kirschholztisch, den Küchentisch der Großmutter, ein Familien-Erbstück, das mitwandert. Das Gefühl, eine Heimat zu haben, wird zum Gefühl, in der Sprache ein Zuhause zu gewinnen. Damit ist sich Bodrožić mit Hannah Arendts Statement von der Sprache als befriedigendem Verstehen wie ein ‚Heimatgefühl’ einig.
Solche Sprache unter dem Blickwinkel ‚poetischer Vernunft’ erweist sich als theoriefähig.
Marica Bodrožić analysiert die Rationalität der Emotionalität als hochkarätigen Philosophieansatz.
Das erste Theorem ist, dass Gefühle in einem empfindenden Körper entstehen, nicht durch ihn, aber im Wahrnehmungssensorium, das eine Wirklichkeit schafft, die vielleicht nicht von außen sichtbar ist, aber von innen her.
Hier herrscht Subjektivität, die Objektivität beansprucht, sie setzt Wirklichkeit.
Die Autorin wählt für diese Perspektive auf die Welt die Metapher des ‚Denk- und Fühlpostens’, von dem aus alle Erscheinungen in ihrer Mehrdeutigkeit, in ‚vielen Kombinationen und inspirierenden Verwandlungen’ wahrgenommen werden. Eine Grunderfahrung liegt darin, dass wir als Erde mit den Lichtern unserer Städte in die Weiten des Universums hinausleuchten. „Für die Sterne sind wir eine leicht einsehbare Lektüre. Sie lesen uns, während wir sie betrachten.“ (S. 91)
Ein zweites Theorem liegt in der Antwort auf die Frage, ob Gefühle, wie der lateinische Name sagt, passiv sind oder aktiv. Dass Gefühle eine Bewegung, eine Motivation initiieren und dass sie deshalb für das menschliche Handeln entscheidend sind, formuliert schon Aristoteles als Begründer von Gefühlstheorie gegenüber Platons Trennung von Kopf und Körper.
Die Passiones (Leidenschaften) sind nicht passiv, sondern durchaus aktiv.
Für den politisch ‚gusseisernen Begriff’ der Frauenbewegung wählt Marica Bodrožić differenziert die poetisch vernünftige Kapitelüberschrift „In Bewegung – die erwachenden Frauen“, eine kleine, feine Differenzierung, die hilft, Vorurteile abzustreifen.
Vor allem in diesem Kapitel entfaltet die Autorin ihre Gefühlstheorie im Wortfeld des Inneren als eines ‚genauen Gefühls’: „mittels Sprache erlangte Rückeroberung unserer Innenwelt“
(S. 203).
Schließlich liegt im dritten Theorem der Höhepunkt:
Gefühle sind, da ambivalent, symbolisch vermittelt.
Hier ist die Literarizität herausgefordert, die Kunst des Schreibens über die Lebendigkeit der Gefühle. Dabei konkretisiert Bodrožić die Symbolbildung oder Symbolschöpfung durch das Verfahren der Synästhesie, da dabei der Zusammenhang der Wahrnehmungen und damit der Welt gewahrt bleibt. Hier liegt der Zielpunkt einer Gefühlstheorie, die die Basis dieser Poetologie bietet und den Titel der Essays zusammenführt:
„Der Synästhet ist von Natur aus poetisch vernünftig und benutzt keine gusseisernen Begriffe“(S. 118).
Synästhesie beschreibt die Autorin mit Walter Benjamin als Verknüpfung, Verflechtung, Verbindung, Verwandlung wie im Traum, eine ‚Innen-Bilder-Schau’, ein Sich-Selbst-beim-Sehen-Zusehen oder ein Sich-selbst-beim-Hören-Zuhören.
Solche Zustände können nur in Bildern beschrieben werden:
„Je näher wir unserem eigenen Leuchten kommen, desto freier können unsere inneren Kometen strahlen und uns helfen, aus unserem kleinen Ich hineinzuwachsen und zu einem helleren Selbst vorzudringen“(S. 106).
Diese Haltung des Fühlens formuliert die Autorin in einem integrierten Gedicht, das wie ein Schild zu einer Eingangstür wirkt:
„Der Blick
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dieser ewige
Anfang
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im Menschen“
„Anfänger seiner selbst zu sein“ ist das ursprüngliche Anfangen, das schöpferische Jungsein, wie es Marica Bodrožić bei Marina Abramović oder Friederike Mayröcker als weisen alten Frauen erlebt, die sich stets in junge verwandeln und ihr Leben unter einen glücklichen Stern stellen (S. 60-62).
Das geschieht durch die Sprache, „die wird jetzt nicht mehr von außen gelebt, sondern von innen beatmet“(S. 97).
Hier gewinnt Bodrožić den Kern des Schöpferischen, das, was als ‚ewiger Ursprung’ von Wilhelm von Humboldt oder als das Ursprünglich-Spontane, das Geheimnis des Schöpferischen von Hans Blumenberg gesucht wird bzw. Hannah Arendts Frage nach der Natalität als Prinzip echten, freien Handelns beantwortet.
So ist der Weg bereitet, sich Marica Bodrožićs poetischen Werken zuzuwenden, deren Literaturtheorie in diesen Essays lebendig wird. Wenn Bodrožić Walter Benjamins Empfehlung zum „Befragen der Sterne – selbst allegorisch verstanden“ (S. 118) aufgreift, liegt ihr Band „Sterne erben, Sterne färben“ bereit, in dem die Autobiographie der Autorin mit ihrer „Ankunft in Wörtern“, in einem Prozess des Zur-Sprache-Kommens, einer der eigenen Lebensgeschichte chronologisch parallelen ‚Biographie der Wörter’ vorgestellt wird.
Darin formuliert die Autorin das die aktuelle Philosophie umtreibende Konzept einer ‚Kognition der Emotion’ in klassischer Form:
„Der Verstand gibt auf. Alles auf einmal zu denken vermag er nicht. Aber das Herz, ein Organ der Seele, hält all den Widersprüchen, Widrigkeiten, aller Verlorenheit und Gegenwart, allem Gehenden und Kommendem stand“(Sterne erben, Sterne färben S. 91).
In beiden Essaysammlungen werden Problemkonstanten des biographisch-ideographischen Werkes sichtbar: „Jedes Wort konnte mir als Widerwort ausgelegt werden. Das Sprechen war für mich viele Jahre ein Synonym für das Aufbegehren“ (S. 35).
Diese Essays sind eine wirkliche „Schrift“, die als philosophische Thesenschrift, in dieser renommierten Reihe exzellent platziert, zur Lektüre dringend empfohlen werden soll, gerade in Zeiten, in denen der Appell an die Vernunft nicht einen gusseisernen Begriff meint, sondern eine genau gefühlte Verantwortung jedes Einzelnen / jeder Einzelnen für die Pluralität des Wir, auf der Basis einer Sprache, die Verwundbarkeit und Zerbrechlichkeit klar bekennt.
Aus dieser Poetologie lassen sich anregende Denkanstöße als Essay-Anlässe gewinnen, um Lesen und Leben zusammenzuführen, zum Beispiel:
1. Wie hängen unsere Biographien als Chronologie der Ereignisse mit der Biographie der Wörter zusammen? Was waren meine ersten Worte, aus der Erinnerung meiner Eltern, aus meiner Erinnerung?
2. Wann habe ich wie widersprochen als eine eigenständige Sprecherin?
3. Welche Wort aus welchen Kinderbüchern bleiben mir warum im Gedächtnis?
Maria Behre 2020
(Der Beitrag wurde von J. Lauer leicht gekürzt. Der vollständige Text ist zu lesen in: Sternstunden mit Marica Bodrožić, Zugänge zum Werk, Aachen 2020, S. 65–74)