Bühnenentwurf von Otto Reigbert für die Aufführung in Kiel 1929
DER SOHN – Drama von Walter Hasenclever (Entstanden 1913 und 1914) Abgedruckt in der zehnbändigen Gesamtausgabe von Dieter Breuer und Ernst Witte aus dem Jahre 1992 (Mainz) Drei Zitate aus Hasenclevers Stück zu Beginn: „Was vor 8 Stunden war, ist für mich schon historisch.“ (S.293) „Die Väter schämen sich vor ihren Söhnen.“ (S.294) „Ich missbrauchte dich von Anfang an.“ (S.300) DER SOHN gilt als eines der Schlüsseldramen des expressionistischen Jahrzehnts. Das stimmt! Hasenclever erhielt für dieses Drama den Kleistpreis. Das stimmt nicht! Hasenclever wurde für seine ANTIGONE-Bearbeitung mit dieser Auszeichnung bedacht. DER SOHN ist heute unaufführbar, weil das Stück in seiner Thematik und pathetischen Sprache hoffnungslos veraltet ist. Das stimmt nur zum Teil! Damit bin ich bei der Frage, die ich erörtern möchte: Wie könnte 2021 eine Aufführung des bekanntesten Dramas unseres Autors aussehen? Versuch einer subjektiven Antwort: Eine moderne Inszenierung müsste radikal den Aufstand der jungen Generation zum Thema machen. Ferner berücksichtigt die Regie den radikalen und permanenten Wandel unserer Gesellschaft! Die Aufführung warnt vor der Gefahr der Instrumentalisierung von Menschen und des Machtmissbrauchs durch Herrschende – und damit bin ich bei den drei obigen Zitaten. Hier ist der Ausgangspunkt für eine zugegeben radikale Veränderung, die aus Hasenclevers Aufstand der Söhne eine Diskussion aktueller Probleme macht, die die Forderung der Jüngeren ernst nimmt, dass die Zukunft noch Chancen und nicht mehr nur Risiken und Katastrophen bereit halten müsse. Doch der Reihe nach: Den Kampf zwischen dem minderjährigen Sohn und seinem Vater kann nicht mehr ohne konsequente Überarbeitung inszeniert werden. Hasenclevers Kampfstück bietet überzeugende Aktualisierungsmöglichkeiten: Nie war der gesellschaftliche Wandel mit Blick auf „Revolutionen“ (einem Schlüsselwort im Stück) in der Informations- oder Biotechnologie so radikal wie im 21. Jahrhundert. In der Tat ist heute in unserem Erleben vieles schnell Geschichte (Zitat 1), sicher nicht direkt nach 8 Stunden, aber in einem atemberaubenden Tempo. Die Angst ist deutlich, dass Ältere diesen rasanten Wandel nicht mehr bestehen können. Das Pochen auf herkömmliche Werte wie Pflicht und Leistung, das der Vater lebt und propagiert, bedeutet Festkleben an Vorstellungen, die nicht mehr zur Orientierung in der Welt der Algorithmen taugen. Neue Fragen stellen sich, Töchter und Söhne machen deshalb auf „lebensgefährliche“ Veränderungen aufmerksam, die die Elterngeneration in ihrem Materialismus ignoriert. Jetzt wäre ein mutiger Regisseur gefordert, der die Schuld der Verantwortlichen (Zitat 2) für Klimawandel, Gefahr des Atomkrieges und Massenflucht von Menschen in den Fokus rückt. Hasenclevers Kampf gegen die Väter wird so zum Aufbegehren gegen ein Erbe für die nachfolgende Generation, das voller ungelöster Probleme steckt. Der Sohn des Dramas erlebt sich ohne jegliche individuelle oder gesellschaftliche Relevanz. Die nicht bestandene Matura ist Symbol einer mächtigen Ordnung, die noch lebt, aber nur noch dem Machterhalt einer Kaste dient. Im 21. Jahrhundert befürchtet die wache Einzelne oder der aufmerksame Akteur, dass neue Arbeitsbedingungen, geschaffen durch künstliche Intelligenz, sie und ihn überflüssig machen. Kann das Individuum noch die „Wahrheit“ gesellschaftlicher Umwälzungen erkennen? Google bestimmt unsere Einschätzungen, wie bekommen wir seriöse intellektuelle Prüffähigkeit zurück? So könnte der dritte Akt mit seinen revolutionären Reden für den Hedonismus zur Anklage der Irrelevanz werden, zu der Eliten die Mehrheit der Menschen verurteilen. Unser Misstrauen gegen Big Data als Thema, ein wacher Blick auf mögliche Instrumentalisierungen (Zitat 3), alles möglich und nötig, wenn DER SOHN das Wort für seine Generation ergreift. Zugestanden: Das ist ein Hasenclever-Überarbeitungs-Projekt, das große Ausmaße besitzt. Der Reiz ist unverkennbar. Ein nicht ganz ernst gemeinter Vorschlag: Statt der Marseillaise wird beim Aufstand im Saal WE SHALL OVERCOME gesungen, statt der Verführung durch Adrienne die Verführung durch die angebliche Sympathie und die Pfründe der Mächtigen. Die „Jugend und die Glut des Hasses“ (S.310) als treibende Kräfte der Veränderung werden zum Engagement von Tausenden, die der Zerstörung von Natur und nicht mehr angemessenen Lebensbedingungen entgegentreten. Keine Revolver werden gezückt, sondern Menschen auf der Flucht drängen in den Raum, eine neue Generation fordert „Rechenschaft“ (S.316). Hasenclever: „So rette denn dein Geschlecht!“ (S. 306) Fazit: Was bleibt übrig vom Drama? Was ist Neuschaffung oder unangemessene Aktualisierung? Ernst gemeintes Pathos wie bei Freitagsdemonstrationen junger Menschen oder ironische Distanzierung, um die Wucht der Fragen überhaupt erträglich zu machen? Eins ist sicher: Was heute unsere PFLICHT ist, in unseren verschiedenen Rollen und Aufgaben, diese Frage stellt Hasenclever, und sie verdient eine radikale Aktualisierung. Axel Schneider, im Januar 2021