Michael Lentz

Michael Lentz Aus seiner Dankrede zum Walter-Hasenclever-Preis 2012 (WHG-Jahrbuch 2012/2013, S. 9 f.) „Denn ich glaube, von allen Autoren, die zwischen 1910 und 1930 als neuartig, wichtig, einflussreich, viel aufgeführt und viel gelesen galten, ist Walter Hasenclever, einst einer der Anerkanntesten, heute einer der Unbekanntesten und Verkanntesten.“ Hätte diese Feststellung nicht Kurt Pinthus bereits 1962 getroffen, könnte sie – 50 Jahre später – von mir sein. Sie ist von mir als Zitat ordnungsgemäß kenntlich gemacht – und schon kündigen sich Einschränkungen an. Welcher Maßstab ist heute anzulegen, diese Feststellung zu treffen, in welchem Sinne ist von ‚neuartig’, ‚wichtig’ und ‚einflussreich’ zu sprechen? Eine Frage, die hier in der Luft hängen bleiben soll … Es bleibt ein Rest nicht ganz auflösbarer Nebulosität, denkt man an den Namen Walter Hasenclever. Auf eine saloppe Formel gebracht, ließe sich sagen, das Werk von Walter Hasenclever ist rezeptionsgeschichtlich zwischen die Stühle von Expressionismus und Exilforschung geraten. Unter dem Label ‚Expressionismus’ steht Hasenclever mit seinem in Leipzig geschriebenen Dauerbrenner Der Sohn zwar noch auf der literaturgeschichtlichen Tagesordnung, überwiegend aber wird sein Werk in Fußnoten marginalisiert … Es bleibt dabei: Der Name Walter Hasenclever steht paradigmatisch für Expressionismus, Bücherverbrennung, Exil und Selbstmord. Diese Schlagworte lassen sein Werk schnell und problemlos verorten, ohne sich konzentriert mit ihm auseinandersetzen zu müssen … Aus der Verlagslandschaft ist Hasenclever nicht ganz verschwunden, so richtig greifbar ist er aber auch nicht. Und ‚greifbar’ ist ein Schlagwort, das noch in einem ganz anderen Zusammenhang konstitutiv zu sein scheint für die Verfasstheit von Hasenclevers Werk: Es ist selbst auf eine eigentümliche Weise nicht greifbar. Hasenclever scheint mir der Typus von Schriftsteller zu sein, der durch permanente Suchbewegung sich in ästhetischer Diversifikation fast verliert und ‚Geleistetes’ im Stadium der Neuorientierung wieder verwirft bis hin zur Abqualifizierung vorgängiger Arbeiten, sobald etwas Neues am Horizont erscheint, von dem Hasenclever Großes erwartet, wie er in einem Brief an seinen Verleger Kurt Wolff in Leipzig über sein gerade entstehendes Stück Die Menschen am 24. April 1918 kundtut, in dem er seine beiden Stücke Antigone und Der Sohn, mit dem er so großen Erfolg hatte, kurz und klein redet … Das ‚Leisten’ des Werks als beinahe herbeizuzwingende Lebensaufgabe im Bewusstsein, mit seiner Dichtung nie anzukommen, sondern immer unterwegs zu sein zu einer unsagbaren ‚anderen’ Sprache, in paradoxer Bewegung pendelnd zwischen ‚Unsäglichkeit und Sagnis’, wie er es in dem Briefgedicht Elfte Antwort formulierte, das war Stachel und Dilemma zugleich eines Zeitgenossen von Walter Hasenclever, den dieser Konflikt allerdings sprichwörtlich zu einem Höchstmaß an Produktivität und Unnachgiebigkeit anstiftete, sollte diese sich ihm versagen – die Rede ist von Rainer Maria Rilke. Auch bei Hasenclever blitzen solche Momente des Unbedingten auf, wie zahlreiche seiner Briefe belegen … Dass Hasenclever als der prototypische Expressionist, geradezu als Parade-Expressionist firmiert, ist angesichts der thematischen, sprachlichen und stilistischen sowie der gattungs-typologischen Vielfalt seiner Literatur höchst verwunderlich.