Norbert Otto Eke für Herta Müller

Aus der Laudatio von Norbert Otto Eke für Herta Müller (WHG-Jahrbuch 2005/2006, S. 113 f.) In ihrer Tübinger Poetik-Vorlesung In jeder Sprache sitzen andere Augen, die den Essayband Der König verneigt sich und tötet (2003) einleitet, hat Herta Müller die Qualität eines Textes davon abhängig gemacht, ob er dazu in der Lage sei, Anschlussmöglichkeiten für das innere Sensorium des Lesers zu eröffnen, den Leser mit sich zu nehmen: „Das Kriterium der Qualität eines Textes ist für mich immer dieses eine gewesen: kommt es zum stummen Irrlauf im Kopf oder nicht. Jeder gute Satz mündet im Kopf dorthin, wo das, was er auslöst, anders mit sich spricht als in Worten.“ Herta Müller spricht an dieser Stelle von sich als Leserin. Sie beschreibt an dieser Stelle sehr treffend aber auch, was mit uns als Lesern bei der Lektüre ihrer Texte geschieht, wie ihre Sät-ze immer neue Denk- und Assoziationsräume aufschließen, Bilder und Erfahrungen freisetzen. Es ist der ganz eigene Ton dieser Sätze, der in unserem Kopf „den Irrlauf“ hervorruft – ein Ton, in dem sich auf eigentümliche Weise eine komplexe ästhetische Erinnerungsbewegung Aus-druck verschafft, die sich der Wirklichkeit als Material eines poetischen Spiels mit Erfahrungen bedient. Dieser eigentümliche Ton, den Herta Müller in den achtziger Jahren […] mit Erzählungen in die deutsche Literatur eingeführt hat, verdankt sich der prekären Situation einer ’kleinen Literatur’, deren Autoren sich gleichsam wie Fremde in der eigenen Sprache bewegen, weil sie als Angehörige einer Minderheit in einem sprachmehrheitlich anders bestimmten Umfeld schreiben und leben. Das nämlich ist der Humus, aus dem die Literatur Herta Müllers zunächst einmal treibt: Der Ort der Autorin Herta Müller ist einer des Dazwischen: zwischen den Welten, Wirklichkeiten, Räumen. Bereits ihre frühen Texte, die ihre künstlerische Inspiration anfangs aus der Provinz der Kindheit schöpften, um von der Unmöglichkeit eines selbstbestimmten Lebens in einem auf Unter-drückung und Überwachung aufgebauten Staat zu erzählen, bereits diese frühen Texte sind, was ihre späteren, nun nicht mehr in Rumänien entstandenen Romane, Collagen und Essays so unverwechselbar macht: sie sind immer auch Wanderungen durch die Spiegelgänge der Kulturen und Sprachen. Sie bewegen sich zwischen zwei sprachlichen und kulturellen Systemen: rumänisch bzw. ru-mänische Kultur / Literatur und deutsch bzw. deutsche Kultur / Literatur. Aus der Gemengelage von Minderheiten-Deutsch, deutscher Literastursprache und rumänischer Landessprache heraus schafft Herta Müller in diesen frühen Werken, die ihren Ruhm als Schriftstellerin begründen, eine unberechenbare, eine schweifende, vagierende Literatursprache, die Zwischenräume besetzt, indem sie das Rumänische aufnimmt, es an vielen Stellen einlässt in den Text, das Deutsche (die Kindbettsprache aus den Dörfern und die deutsche Hochsprache) so gegenüber der fremden Sprache öffnet, was zu eigentümlichen Doppelbelichtungen der Bild-Welten in Herta Müllers Erzählungen und Gedichtcollagen führt: Die Sprach-Bilder durchdringen sich gegenseitig. […] An einem einfachen Beispiel hat Herta Müller selbst ihre Situation zwischen den Sprachen erläutert: „Im Dialekt des Dorfes sagte man: Der Wind geht. Im Hochdeutschen, das man in der Schule sprach, sagte man: Der Wind weht. Und das klang für mich als Siebenjährige, als würde er sich weh tun. Und im Rumänischen sagte man: Der Wind schlägt, vîntul bate. Das Geräusch der Bewegung hörte man gleich, wenn man ‚schlägt’ sagte, und da tat der Wind nicht sich, sondern anderen weh. So unterschiedlich wie das Wehen ist auch das Aufhören des Windes. Auf Deutsch heißt es: Der Wind hat sich gelegt – das ist flach und waagerecht. Auf Rumänisch heißt es aber: Der Wind ist stehen geblieben, vîntul a stat. Das ist steil und senkrecht. Das Beispiel vom Wind ist nur eines von den ständigen Verschiebungen, die zwischen Spra-chen bei ein- und derselben Tatsache passieren. Fast jeder Satz ist ein anderer Blick.“