Verstaubte Liebe – Aus der Frühzeit der Aachener Literaten

Verstaubte Liebe kann neue Liebe wecken Für alle, die mit dem Einhard-Gymnasium verbunden sind und für Interessenten an der Aachener Vorkriegsgesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird es noch antiquarisch im Internet angeboten: das 1992 im damaligen Alano Verlag erschienene Buch (mit dem Titel eines Hasenclever-Feuilletonartikels) Verstaubte Liebe. Der Untertitel Literarische Streifzüge durch Aachen zeigt an, was der Leserschaft geboten wird: neben dem Faksimile-Nachdruck des Aachener Almanachs von 1910 literarische und feuilletonistische Beiträge der jungen Aachener Autoren, die mit neuen Gedanken und neuer Sprache der „verstaubten Vätergeneration“ begegnen wollten: Ludwig Strauß, Walter Hasenclever, Philipp Keller, Karl Otten, Adam Kuckhoff und Max Strauß. Die Herausgeber Gregor Ackermann und Werner Jung leiten die Textsammlung ein mit einem hochinteressanten faktenbelegten Essay, wie diese Aachener Welt aussah, mit der die jungen Literaten sich leidenschaftlich und kritisch auseinandersetzten: „…eine Stadt mit einem gezählten Dutzend Schützenvereinen, sieben Musik- und zwei Dutzend Gesangsvereinen (überwiegend männlichen, versteht sich) … Hier regiert das kulturelle Mittelmaß, rangiert künstlerischer Durchschnitt vor modernen Tendenzen“ (S. 22). Sie war in den kritischen Bereichen kulturell und sozial etwa so, wie wir sie heute noch in manchen von Bomben verschonten Häusern versinnbildlicht finden: Mangels zeitgemäßer Gestaltungsideen bieten sie einen von Kitsch nicht verschonten Mischmasch aus den Stil-Arsenalen Neugotisch, Neurenaissance, Neubarock und Neuklassizistisch. Für die damaligen Jungliteraten schrieb Karl Otten (Europa lag in Aachen): „Wir fühlten uns als Überflüssige, denen die herrschende Kunst und Dichtung als widersinnig imitativ, als unschöpferisch erschien“ (S. 151). So war für sie die Vätergeneration weitgehend: konservativ im Kulturkonsum, paternalistisch-autoritär in der Erziehung, national und besitzorientiert in der gesellschaftlichen Orientierung. Für das Einhard-Gymnasium unter seinem früheren Namen Kaiser-Wilhelms-Gymnasium (KWG) ist in dieser Textsammlung zu ersehen, dass die literarischen Pfadsucher überwiegend aus dieser Schule stammen: Max Strauß (Abitur 1906), Walter Hasenclever (Abitur 1908), Karl Otten (Abitur 1910) und Philipp Keller (Abitur 1910). Dies bedeutet freilich nicht, dass ihnen durch ihre Lehrer dort für Gegenwartsliteratur der geistige Boden vorbereitet worden wäre, eher im Gegenteil. Karl Otten erzählt, dass der damalige Schulleiter Dr. Regel Walter Hasenclever wegen dessen Bekenntnis, Nietzsche für den bedeutendsten Denker der Zeit zu halten, entgegnete: „Ein Schüler, der die Frechheit besitzt, Nietzsche zu lesen, wird unter der Guillotine enden!“ (S. 149) Nein, die Autorengemeinschaft der jungen KWGer gründete eben auf der Suche nach einer Sprache, die der Wirklichkeit ebenso entsprechen sollte wie ihren Träumen und ihrem Gestaltungsdrang. Einer, der ihnen vorausgegangen war und mit dem sie sich begeistert auseinandersetzten, war der Sprachgestalter August Stramm, der am KWG 1893 das Abitur abgelegt hatte. Sie zitierten seine Werke und versuchten, in seinem Stil zu dichten (S. 148). Und Edwin Suermondt, ebenfalls KWG-Absolvent (Abitur 1901), Kunststudent aus der Patrizierfamilie, die der Stadt das gleichnamige Museum vermachte, war für die jungen Literaten ein geistiger Wegweiser zur Sprache Stefan Georges und zur kubistischen Malerei Picassos (S. 146). Schlussbemerkung zu dieser Lese-Empfehlung für Einhardianerinnen und Einhardianer: Die heutige Schülerschaft hat es nicht mehr nötig, in ihrer Beschäftigung mit Gegenwartsliteratur und Problemen der Zeit auf sich allein gestellt zu sein. Zum Glück.

Jürgen Lauer