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Allgemein | 03.10.2025

Daniela Krien: Rede zur Verleihung des Hasencleverpreises

Aachen, September 2025

 

Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin, lieber Axel Schneider und werte Mitglieder der Walter-Hasenclever-Gesellschaft, verehrte Jurymitglieder, liebe Anne-Dore Krohn,

ich bedanke mich für die Ehre, diese große Auszeichnung heute entgegennehmen zu dürfen.

 

Als ich zu Beginn des Jahres die Nachricht erhielt, mit dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis ausgezeichnet zu werden, wurde mir schnell klar, dass ich so gut wie nichts über Walter Hasenclever wusste. Ich verband seinen Namen lediglich mit der Liste jener Exilanten, die sich im Laufe des Zweiten Weltkrieges das Leben genommen hatten.

In den darauffolgenden Wochen recherchierte ich seine biographischen Daten, las sein Drama „Der Sohn“, seine Adaption des Antigone-Dramas und seine Gedichte, und ich fand in fast all seinen Werken den Ausdruck einer tief empfundenen Anti-Kriegshaltung, besonders in seiner 1917 erschienenen Antigone-Adaption. Diese Haltung war bei ihm nicht nur das Ergebnis theoretischer Überlegungen, sondern eigener Erfahrungen. Wie viele junge Männer ging auch Walter Hasenclever freiwillig in den Ersten Weltkrieg, doch angesichts der konkreten Schrecken wandelte sich seine Haltung bald. Psychisch schwer angeschlagen wurde er 1917 in eine Nervenheilanstalt eingewiesen. Während der Zeit des Nationalsozialismus erlebte er das Verbot seiner Bücher, den Beginn des Zweiten Weltkrieges, Flucht und Exil. Die Angst vor der Gestapo trieb ihn schließlich dazu, sein Leben zu beenden.

Nach der Lektüre seiner Werke setzte ich mich an einem Tag im Mai dieses Jahres an den Schreibtisch, um mir erste Notizen für meine Dankesrede zu machen. Vorher klickte ich mich noch schnell durch die Online-Nachrichten und blieb bei der Überschrift einer großen deutschsprachigen Zeitung hängen. Sie lautete:

Für den Krieg, nicht für den Frieden.

In dem Artikel ging es um den Aufbau einer deutschen Kampfbrigade in Litauen.

Mir stellte sich sofort die Frage, wie Walter Hasenclever – säße er neben mir und läse er mit mir diese Schlagzeile – wohl reagiert hätte. Vermutlich ähnlich wie ich: In mir löste diese Sprache spontan Fassungslosigkeit und Ablehnung, ja Angst aus.

 

Unser Lebensgefühl hat sich in den letzten Jahren verändert. Wir spüren, dass Fundamentales ins Rutschen geraten ist, wenn kein Tag mehr vergeht, an dem nicht von Aufrüstung, höherer Wehrfähigkeit, Rückkehr zur Wehrpflicht und Kriegstüchtigkeit die Rede ist, und in mancher Schlagzeile vernehme ich eine merkwürdige Lust an der Gefahr. Dauert der Frieden schon zu lange, um seinen Wert zu begreifen?

Fakt ist: Der Krieg rückt näher. Wir beginnen uns an den Gedanken zu gewöhnen, dass wir ihn wieder hautnah erleben könnten. Wir ahnen, dass vielleicht bald nicht anonyme Soldaten, sondern unsere Männer, Söhne, Brüder ihre Gesundheit und ihr Leben verlieren – nicht mehr für Gott und Vaterland, aber für Freiheit und Demokratie.

Vorige Woche blieb ich vor einem riesigen Plakat in der Leipziger Innenstadt stehen. In der Mitte war eine sehr junge Soldatin in Tarnkleidung und einer Waffe in den Händen zu sehen, flankiert von weiteren jungen Soldaten. Wie weit gehst du für unsere Demokratie? stand am unteren Bildrand. Abgesehen von dem irreführenden Arrangement des Bildes mit einer Frau im Zentrum, die den Männern vorausgeht – der Frauenanteil in der Bundeswehr liegt zwar bei über zehn Prozent, aber nicht in den Kampftruppen – erschütterte mich der Gedanke, dass der bisher undenkbare Ernstfall für diese jungen Menschen nun reale Möglichkeit geworden ist. Ich kann darüber nicht so einfach zur Tagesordnung übergehen, wie andere in den Redaktionsstuben und Abgeordnetenbüros dieses Landes, die aus sicherer Unbetroffenheit die Trommeln schlagen. Ja, ich erschrecke vor dieser verbreiteten Fähigkeit, mit der Zeit zu gehen.

 

Walter Hasenclever hatte gesehen, was alle im Krieg früher oder später zu Gesicht bekommen: Den Menschen in seiner niedrigsten Gestalt. Denn der Krieg aktiviert bei den Meisten nicht das Beste, das Heldenhafte, Aufopferungsvolle, sondern das Schlechteste. Taten, die im Frieden selten begangen werden, – und das nicht nur, weil sie hart sanktioniert würden – brechen im Krieg hervor, werden durch ihn legitimiert und sogar belohnt. Natürliche Hemmungen werden abgebaut. Wer schon einmal einen Kampfsport trainiert hat, Boxen zum Beispiel, weiß, dass es gar nicht einfach ist, die Schlaghemmung zu überwinden. Eigentlich wollen wir unsere Faust nicht mit voller Wucht in das Gesicht eines anderen Menschen rammen. Aber hat man es einmal getan, wird es immer leichter. So ist es auch im Krieg. Man gewöhnt sich daran. Das Mitleid bleibt irgendwann aus, die Seele ist zerstört. Vertreibung, Vergewaltigung, Verstümmelung, Tötung von Menschen sind Teil jedes Krieges.

Und im 20. Jahrhundert hat sich das Zerstörungspotential vervielfacht, über das Jene verfügen, die die Befehle zum Einsatz moderner Waffen geben. Deshalb warnte der Schriftsteller Reinhold Schneider, als ihm 1956 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde, in seiner Dankesrede, er hielte es für denkbar, dass inzwischen eine Frau, eine Mutter weniger zittere vor dem Ausbleiben des Mannes oder des Sohnes im Krieg, als vor seiner Heimkehr mit vom Gebrauch moderner Waffen befleckter Hand.

Und diese Taten verändern nicht nur das Leben Jener, die sie unmittelbar erleiden oder ausführen. Auch wir sind von den Folgen des letzten großen Krieges noch betroffen. In vielen Familien wirken die leidvollen Geschichten nach, bis heute, bis in die vierte und fünfte Nachkriegsgeneration.

Erfahrungen, die heute nur noch wenig gelten?

Dieser Schluss drängt sich auf, wenn man beobachtet, wie eskalationsbereit die öffentliche Rhetorik in unserem Land binnen kurzem geworden ist. Mir scheint zuweilen, dass es selbst Carl Schmitt unheimlich würde, wenn er die rasante Karriere des Freund-Feind-Denkens miterlebte. Dass sich dabei auch Politiker hervortun, die keinen Wehrdienst geleistet haben und noch vor wenigen Jahren nichts daran auszusetzen hatten, wenn Soldaten als Mörder beschimpft wurden – das zeigt eine charakterliche Disposition, die befremdet. Die ehemaligen Verkünder und Gestalter postheroischer Zeiten fordern nun – im sicheren wehruntauglichen Alter – Hingabe und Opferbereitschaft der jungen Generation und beklagen jetzt, dass nur noch etwa jeder sechste Bundesbürger bereit wäre, unser Land zu verteidigen.

Niemand diene dem Frieden durch Beleidigung des Soldaten, sagte übrigens Reinhold Schneider in seiner damaligen Dankesrede. Denn er war weder ein unhöflicher Mensch noch ein naiver Pazifist, wohl aber ein unnachgiebiger Mahner für den Frieden und gegen den Krieg.

Und sollte er heute, 70 Jahre später, gemeinsam mit Walter Hasenclever unserem Treiben zusehen, dann würden uns vermutlich beide vor dem Irrglauben warnen, einseitig mit Aufrüstung und Kriegsertüchtigung den Frieden erhalten zu können. Sicher, im Kalten Krieg, im Wettlauf mit einer bankrotten und schließlich implodierenden Sowjetunion, hat das einmal funktioniert. Aber Geschichte wiederholt sich selten. Viel größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass hochgerüstete Waffenarsenale die politischen Akteure dazu verleiten, sie im Krisenfall auch einzusetzen. Denn wir Menschen handeln viel häufiger irrational und kurzsichtig, als wir uns eingestehen wollen. Erinnert sei hier nur an den Taumel der europäischen Mächte in den Ersten Weltkrieg, wie ihn Christopher Clark in „Die Schlafwandler“ eindrücklich beschrieben hat.

Walter Hasenclever musste diese Erfahrung als junger Mensch machen. Vom Augusterlebnis 1914 mitgerissen, ging er hinein in einen grausamen Krieg, existenziell erschüttert kam er aus ihm heraus. Dann kam der nächste Krieg, der ihm das Leben endgültig unerträglich machte. Er stand kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag, als er sich mit dem Schlafmittel Veronal selbst tötete, und ich vermute, er war zu diesem Zeitpunkt jeglicher Illusionen beraubt. Wie andere Intellektuelle mit ihm, hatte er die Abgründe des Menschseins am eigenen Leib erfahren und ist daran zugrunde gegangen.

 

Was können wir aus diesen Kreuzwegen des 20. Jahrhunderts lernen?

 

Zunächst wohl dies: Aufmerksam zu sein, die Ohren offen zu halten, um in der Ruhe des Friedens den aufziehenden Lärm des Krieges wahrzunehmen. Denn vor jedem Krieg gibt es immer eine Spirale der Eskalation, die im Frieden beginnt. Sie zeigt sich am geistigen Klima, das in einer Gesellschaft herrscht: an der Verrohung der Sprache, an der Uniformierung der Diskurse, an der behaupteten Alternativlosigkeit politischer Entscheidungen.

Und mancher kann diesen geistigen Klimawandel am eigenen Aktiendepot verfolgen. Die Papiere von Rheinmetall haben in den letzten fünf Jahren ihren Wert um mehr als zweitausend Prozent gesteigert. Und im ersten Halbjahr dieses Jahres füllten sich die Auftragsbücher der Rheinmetall AG rasant. Aufträge in Höhe von 63 Milliarden Euro – Tendenz steigend – werden die Aktionäre auch in den nächsten Jahren reich machen.

 

Zum Zweiten halte ich es für empfehlenswert, eine gesunde Portion Skepsis zu behalten und die Fähigkeit zu kritischer Distanz nicht zu verlieren.

Heute werden – statt König, Gott oder Vaterland – Freiheit und Demokratie als höchste Werte ins Feld geführt, für die es sich zu kämpfen und im Ernstfall auch zu sterben lohne. Ich muss bei diesen Pathosformeln unwillkürlich an ein legendäres Zitat des Entspannungspolitikers Egon Bahr denken. Dieser diktierte 2013 in einem Schülergespräch seinen jungen Zuhörern folgendes ins Stammbuch:

In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.

Wir sollten Egon Bahr in diesem Punkt beim Wort nehmen, und die Slogans und Schlagworte kritisch hinterfragen, mit denen wir inzwischen täglich konfrontiert werden. Wir sollten die politischen Interessen herausfinden, die sich dahinter verbergen, und uns dann darüber klar werden, ob es unsere Interessen sind. Und jeder einzelne muss sich fragen, was in Bezug auf Krieg und Frieden sein vitales Eigeninteresse ist. Ist es die Verteidigung einer Regierungsform? Schließen wir uns also dem bekannten Vers des jungen Schiller an: Das Leben ist der Güter höchstes nicht! Oder halten wir das mit einer Formulierung Carl Schmitts für eine Tyrannei der Werte und betrachten stattdessen das Leben unserer Familie, unserer – oft einzigen – Kinder als höchstes Gut? Im Zeitalter von Massenvernichtungswaffen können wir der Beantwortung dieser Fragen nicht ausweichen. Und wir sollten uns über unsere Antwort rechtzeitig, also in Friedenszeiten, klar werden.

 

Zum Dritten sei der Mut genannt: der Mut zum Widerspruch, notfalls zum Widerstand.

Wer in politischen Krisenzeiten unbequeme Fragen stellt, macht sich schnell verdächtig. Wer gar herrschende Glaubensbekenntnisse anzweifelt, muss damit rechnen, als Häretiker verfemt und bekämpft zu werden. So wurde Reinhold Schneider in der frühen Bundesrepublik zum Ausgestoßenen der eigenen Kirche, weil er eine Atombomben-Theologie ablehnte, die den Einsatz nuklearer Waffen rechtfertigte. Die Kirche verdammte nicht nur seine Ansichten, sondern auch ihn persönlich mit einer Härte, die bis nahe an die Vernichtung seiner wirtschaftlichen Existenz ging.

Erfahrungen, die in der späten DDR ähnlich auch Friedrich Schorlemmer gemacht hat, als er zum Kirchentag 1983 in Wittenberg symbolisch ein Schwert zur Pflugschar umschmieden ließ — während sich das Establishment seiner Kirche opportunistisch verhielt, um bei den Mächtigen nicht anzuecken.

Solche Zivilcourage in der Frage von Krieg und Frieden ist auch im Deutschland des Jahres 2025 kein Gratis-Mut. Sie kann einen hohen Preis haben, aber gerade das macht sie so wertvoll und unverzichtbar.

 

Und schließlich lehrt uns der Kreuzweg von Walter Hasenclever und seinen Schicksalsgefährten noch etwas ganz Grundsätzliches: dem Bemühen um Frieden immer Priorität einzuräumen. Und diesen Vorrang nicht nur im Munde zu führen, sondern im politischen wie privaten Handeln zu verwirklichen. Das halte ich für die angemessene Haltung einer Christin, die hier zu Ihnen spricht, und ich halte es für den Imperativ, auf den in einer multipolaren Welt voller Konflikte alles ankommt, wenn wir eine Zukunft haben wollen.

Ich denke, auch Walter Hasenclever würde dieser Maxime zustimmen. Wir müssen uns nur die Szene vor Augen führen, mit der seine Antigone-Adaption endet.

Theben liegt in Schutt und Asche. Kreon, der König ist fort. Eurydike – seine Frau, Hämon – sein Sohn, Antigone, Ismene — sie alle sind tot. Der überlebende Rest des Volkes steht vor den Toren der zerstörten Stadt.

 

STIMME AUS DEM GRABE

Volk,

Falle nieder –

Gott hat gerichtet.

Sie wenden sich voller Entsetzen. Die geballten Fäuste sinken gelähmt. Sie fallen nieder, schlagen mit dem Kopf auf die Erde.

Betet,

Schuldige Menschen

In der Vergänglichkeit!

Sie heben flehend die Hände empor. – Dunkelheit.

 

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.