Meine sehr verehrten Damen und Herren, verehrte Jury – , dass ich heute hier sein kann und den Walter Hasenclever-Preis entgegennehmen darf, erfüllt mich mit Dankbarkeit, und wenn ich mir die Liste der Preisträgerinnen und Preisträger vor Augen halte, so empfinde ich es als besondere Auszeichnung, jetzt in diesen Kreis aufgenommen zu sein.
Lieber Martin Oehlen, vielen Dank für die schöne Laudatio.
Schläge in den ungewissen Raum
(der Titel meines Vortrags bezieht sich auf eine Zeile aus Walter Hasenclevers Nachdichtung der „Antigone“, auf die ich später noch zu sprechen kommen werde.)
Obwohl ich sechs Jahre nach dem Krieg geboren worden war, verbrachte ich den Großteil meiner Kindheit in Schützengräben, Flakstellungen und Bunkern, auf den Feldern und Wiesen der Südeifel. Der Vater meines damaligen Freundes, Helmut Knuppeglas, besaß einen kleinen Schrotthandel in unserem Dorf; neben seinem Elternhaus türmten sich rostige Eisengitter, Winkelprofile, Kupferkabel, löchrige Waschzuber, ausrangierte Pfannen und Töpfe, Karabiner, Maschinengewehre, Gasmasken, Stahlhelme, alles was wir brauchten, um draußen, in den Wäldern, Krieg zu spielen. Am 15. Juli 1949 explodierte in der Kreisstadt Prüm das Munitionslager unter dem Kalvarienberg, in dem Sprengstoff von den Minenfeldern gelagert worden war, und begrub das schöne Städtchen unter Staub und Geröll. Übrigens ist bis heute die Ursache der Explosion nicht geklärt; die französische Besatzungsmacht hatte den deutschen Behörden die Nachforschungen untersagt. Ständig wurden auf den Feldern Bauern beim Pflügen von Tret- oder Panzerminen in die Luft gesprengt. In der Gaststätte meiner Eltern führten die betrunkenen Gäste noch die gleichen Reden wie während des Krieges. Immer noch waren die Juden an allem schuld, und der Krieg gegen die barbarischen Russen hätte eigentlich gewonnen werden müssen.
[…]
Die Gaststätte meiner Eltern trug den Namen „Zur goldenen Krone“; sie lag vis à vis vom Kriegerdenkmal und dem Kirchfriedhof des Dorfes.
In einer Nische über dem Eingang meiner Alma Mater, der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn, steht eine Statue der Friedensgöttin Regina Pacis. Sie trägt hier ausnahmsweise ein prunkvolles Gewand und eine goldene Krone, sonst wird Regina Pacis, soweit ich weiß, eher schlicht dargestellt. Vielleicht war der Name unserer Gaststätte in dem abgelegenen Eifeldorf ja von dieser schönen Friedensgöttin mit ihrer goldenen Krone inspiriert, dachte ich damals, wie ich als Student zum ersten Mal ehrfürchtig das ehemalige Schloss vom Hofgarten aus betrat und diese Regina Pacis entdeckte, die mit ihrer goldenen Krone weitgehend unbeachtet in einer Nische stand. Aber mein Gedanke war ziemlich gewagt, denn in unserer Gaststätte „Zur goldenen Krone“ ging es beileibe nicht immer friedfertig zu. Aber vielleicht war der ursprüngliche Besitzer der Gaststätte auch ein einfältiger Pazifist, der glaubte, es könnte ihm gelingen, alle seine Gäste, selbst die größten Raufbolde, bei ihren Saufgelagen und Kirmesfesten friedlich miteinander feiern zu lassen.
Immanuel Kant, von dem ich in der Universität mit der Friedensgöttin zum ersten Mal hörte, soll 1793 in eine kleine Gaststätte wie die unsere eingekehrt sein, die ebenfalls bei einem Friedhof lag, und den verheißungsvollen Namen Zum ewigen Frieden trug.
Kant schreibt in der Vorrede seiner Schrift: Zum ewigen Frieden, ein Essay, der viel zitiert, aber eher selten ganz gelesen wird:
„Ob diese satirische Überschrift auf dem Schilde jenes holländischen Gastwirtes, worauf ein Kirchhof gemalt war, die Menschen überhaupt, oder besonders die Staatsoberhäupter, die des Krieges nie satt werden können, oder wohl gar nur den Philosophen gelte, die jenen süßen Traum träumen, mag dahin gestellt sein.“ (Immanuel Kant, Werkausgabe Band XI, Frankfurt, 1968, BA 3,4)
Die Aufschrift auf dem Schild des Gasthofs brachte Kant wohl zu der Frage, ob die Voraussetzung für einen ewigen Frieden tatsächlich erst der Tod ist. Im Jahre 1795 veröffentlichte er dann seinen Essay Zum ewigen Frieden – ein philosophischer Entwurf, in dem er über die Bedingungen der Möglichkeit eines weltweiten Friedensschlusses räsoniert.
Vielleicht dachte Kant, als er am Manuskript saß, an den Österreichischen Erbfolgekrieg, an den Polnisch-Russischen Krieg, den Krieg gegen die Nordwest- Indianer oder die Revolutions- und Koalitionskriege, die gerade begonnen hatten, letztere sollten noch bis ins 19. Jahrhundert hinein andauern; oder Kant dachte generell, wie es sich für einen Philosophen gehört, an den Krieg im Allgemeinen. Ich will die Kriege des 18. Jahrhunderts nicht alle aufzählen, aber es waren ungefähr so viele wie in den nachfolgenden Jahrhunderten. Kriege waren zu Kants Zeiten allgegenwärtig – und sie sind es bis heute geblieben.
Die Zeit des Kalten Krieges haben viele von uns als Epoche des Friedens missverstanden. Man sprach von Nachkriegszeit, als hätte es eine friedliche Zeit nach dem Krieg gegeben. Dies war nicht nur wegen der Atombomben absurd, sondern auch völlig unrealistisch angesichts beständiger kriegerischer Auseinandersetzungen auf der übrigen Welt und mit Blick auf die Bedeutung, die Kriegswaffen für das Bruttoinlandsprodukt eines Landes haben. Im Jahr 2022 beliefen sich die weltweiten Militärausgaben auf insgesamt rund 2,24 Billionen US-Dollar – also 2224 Milliarden Dollar.
Angesichts dieses horrenden Betrages hätte es genügt, nur den ersten Präliminarartikel von Kants Schrift zu lesen, um sich vor Augen zu führen, wie illusionär unter diesen Vorzeichen jede Rede vom Frieden gewesen ist. Kants Artikel lautet nämlich:
„Es soll kein Friedensschluss für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht worden.“ (Immanuel Kant, Werkausgabe Band XI, Frankfurt, 1968, BA 5,6)
Und zum Krieg und seiner Beziehung zum Menschen schreibt Kant an anderer Stelle:
„Der Krieg selbst bedarf keines besonderen Bewegungsgrundes, sondern scheint auf die menschliche Natur gepfropft zu sein.“ (Immanuel Kant, Werkausgabe Band XI, Frankfurt, 1968, BA 57,58)
und:
„Der Friedenszustand unter Menschen, die neben einander leben, ist kein Naturzustand (status naturalis), der vielmehr ein Zustand des Krieges ist, d. i. wenn gleich nicht immer ein Ausbruch der Feindseligkeiten, doch immerwährende Bedrohung mit denselben.“ (Immanuel Kant, Werkausgabe Band XI, Frankfurt, 1968, BA 18)
Kant glaubte nicht an den ewigen Frieden in der realen Welt, so wie wir den Weltfrieden gerne idealistisch verstehen möchten – , er glaubte nicht an ein Wolkenkuckucksheim auf Erden. Aber er macht in seinem Essay viele Vorschläge, wie man der Idee vom ewigen Frieden zumindest näherkommen könnte. Ich möchte hier eine aus meiner Sicht sehr wichtige Voraussetzung für diese Annäherungen nennen:
„Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann“ […] „Weil nämlich unter allen, der Staatsmacht untergeordneten, Mächten […] die Geldmacht wohl die zuverlässigste sein möchte, so sehen sich Staaten (freilich wohl nicht eben durch Triebfedern der Moralität) gedrungen, den edlen Frieden zu befördern.“ (Immanuel Kant, Werkausgabe Band XI, Frankfurt, 1968, B 65,66)
Nach Kant wird der Frieden nicht in erster Linie durch die Triebfeder der Moralität befördert, sondern durch Wirtschaft und Handel. Handel treiben heißt immer auch miteinander verhandeln, miteinander ins Gespräch kommen, unterschiedliche Positionen zur Geltung kommen zu lassen und sich schließlich irgendwie zu einigen.
Und dies ist der uralte Konflikt, den Hasenclever in seiner Nachdichtung der Antigone von Sophokles wieder aufgreift.
Ich nehme an, Sie alle kennen Hasenclevers Lebensweg, wissen, dass er sich gegen den ersten Weltkrieg und überhaupt gegen Kriege wandte, seine Schriften im Nationalsozialismus verbrannt wurden, er sich schließlich 22. Juni 1940 im Internierungslager bei Aix-en-Provence mit einer Überdosis Veronal das Leben nahm, um nicht wieder den Nazis in die Hände zu fallen.
Damit ich nicht falsch verstanden werde, möchte ich vorwegschicken, dass ich nicht der Meinung bin, wir würden in einer Diktatur leben, wie zu Zeiten Kreons, des Königs von Theben, in dem das Drama von Hasenclever spielt. Ich halte das Land, in dem wir Leben auch schon gar nicht für eines, das irgendwie mit Nazi-Deutschland vergleichbar wäre. Aber wieder werden Menschen, die sich wie Walter Hasenclever für die friedliche Konfliktlösungen einsetzen, öffentlich als Sofapazifisten, Unterwerfungspazifisten oder Lumpenpazifisten bezeichnet. Sie werden als „weltfremd“ und „verantwortungslos“ oder besser „gesinnungslos“ und „ängstlich“ verächtlich gemacht, selbst wenn sie nur darauf hinweisen, dass man sich bemühen sollte, auch die Sicht der anderen Seite zu verstehen. Ich muss ihnen nicht sagen, dass Verstehen nicht dasselbe ist, wie Verständnis für eine Position zu haben. „Verstehen“ leitet sich etymologisch vom Althochdeutschen „firstān“ ab – ursprünglich „rings um etwas stehen, etwas umstehen, etwas in der Gewalt haben, beherrschen…“ (https://www.wortbedeutung.info/verstehen/)
Sich öffentlich für diplomatische Lösungen und Verhandlungen einzusetzen, auch den anderen in seinen Motiven und Beweggründen verstehen wollen, erfordert heute wieder Mut, mehr Mut, als manch einer aufbringen möchte oder kann, weil er damit unter Umständen seine berufliche Existenz aufs Spiel setzt. Frieden scheint nicht mehr die oberste Priorität, sondern nur noch eine Option zu sein. Krieg und die Forderung danach ist seit kurzem bei uns wieder gesellschaftsfähig geworden. Deutschland soll wieder kriegstüchtig werden, anstatt einfach nur verteidigungsfähig zu sein. Wissenschaftler und Publizisten, die eine andere Sicht auf aktuelle Konflikte vertreten, werden diskreditiert, auf die eine oder andere Weise mundtot gemacht, verlieren unter Umständen ihre Reputation und werden sogar aus dem Universitätsdienst entfernt.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel schreibt in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes:
„Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze ist aber nicht nur durch seine Entwicklung sich vollendendes Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, dass es wesentlich Resultat, dass es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben seine Natur, Wirkliches, Subjekt, oder Sichselbstwerden, zu sein.“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomänologie des Geistes, Frankfurt am Main – Berlin – Wien, S.22)
Über den großen Philosophen Hegel habe ich in jener Universität mit der Friedensgöttin Vorlesungen gehört. Es ist jene Universität, die erst vor kurzem eine renommierte Professorin vom Dienst suspendierte, weil sie eine andere Meinung als das herrschende Kriegsnarrativ vertritt. Hegel, der auch heute noch in der Universität gelehrt wird, war der Ansicht, dass wir alle in der Welt leben, eben nicht außerhalb von ihr; daher können wir denklogisch nicht alles erfassen – wir sehen nur perspektivisch – Hegel würde sagen: dialektisch. Ein Gleichnis aus den Udana, einer buddhistischen Schrift aus der Zeit von 440 bis 245 vor Chr., macht diesen Gedanken anschaulich; es wird in unterschiedlichen Varianten erzählt:
Blinde Mönche untersuchen einen Elefanten, der ins Dorf gebracht wurde. Jeder der Mönche findet an dem Tier etwas anderes, das aber für ihn das Wesen des Tieres ausmacht – der eine die Stoßzähne, ein anderer den Schwanz, ein weiterer die Ohren oder den Rüssel. In dem Gleichnis streiten sich die Mönche schließlich, weil sie sich gegenseitig als Lügner oder Betrüger bezeichnen. (https://www.wikiwand.com/de/Die_blinden_M%C3%A4nner_und_der_Elefant)
Wir können uns der Wahrheit nur annähern, indem wir unsere Erfahrungen und Wahrnehmungen zusammenlegen und wie bei einem Mosaik Steinchen für Steinchen zu einem Bild zusammenfügen. Aber dazu gehört, dass wir das Mosaiksteinchen des anderen überhaupt zur Kenntnis nehmen und als Teil des entstehenden Bildes sehen. Die Wahrheit ist somit die Sache von vielen unterschiedlichen Positionen und muss gemeinsam erarbeitet werden.
Der Dichter Rainer Malkowski schreibt in diesem Zusammenhang:
„Wer keinen Standpunkt vertritt, verweigert sich den Mitmenschen. Unsere Irrtümer werden gebraucht. Mit der sinkenden Zahl der Positionen schrumpft auch unsere Welt.“ (Rainer Malkowski, Aphorismen und kleine Prosa, Göttingen 2013, S.15 )
Ich finde es bemerkenswert, dass die Stadt Aachen und die Jury sich ihrem berühmten Sohn, Walter Hasenclever, verpflichtet sieht und somit zu dieser von mir angesprochenen Vielstimmigkeit der Standpunkte und Meinungen beiträgt.
Ich selbst hadere und stehe im Konflikt mit mir selbst, wenn ich daran denke, was im Moment in der Welt und damit auch mit uns geschieht. Ich frage mich, ob ich den Frieden um jeden Preis überhaupt wollen kann?
Für Erasmus von Rotterdam entbehrt das seit Cicero einflussreiche Konzept des „bellum iustum“ (gerechter Krieg) in der Realität jeglicher Grundlage. Er begründet das damit, dass jede Partei ihren Anspruch für den „gerechten“ Krieg für sich in Anspruch nimmt, aber eine unparteiische Instanz gibt es nicht. In „Querela Pacis“ – „Die Klage des Friedens“ lässt Erasmus die Friedensgöttin „Pax“ zu Wort kommen, die sich als „Stifterin und Erhalterin von allem“ vorstellt. Die Friedensgöttin konfrontiert uns mit der Wirklichkeit des Krieges, dessen verheerende Folgen jede mögliche Legitimation in den Schatten stellen:
„Kaum kann je ein Friede so ungerecht sein, dass er nicht besser wäre, als selbst der gerechteste Krieg. Erwäge vorher einzeln, was ein Krieg wohl fordert oder einbringt, und du magst erkennen, wie weit der Gewinn ginge …
Arbeitest du auf den Krieg zu? Schau zuerst hin, wie der Friede beschaffen ist und wie der Krieg, was dieser an Gutem, was jener andererseits an Unheil herbeiführt; und so magst (du) überlegen, ob es zuträglich sei, den Frieden mit dem Krieg zu vertauschen.“ ( https://www.ekd.de/19860.htm )
Ich erinnere mich, wie ich mit meinem Freund Helmut hinten auf der Ladefläche des Goliaths seines Vaters sitze und wir über die Dörfer fahren. Der Goliath war ein Kleintransporter mit drei Rädern und einem wassergekühlten Zweizylinder-Zweitaktmotor, der noch mit einem Handhebel gestartet wurde. Wir sammelten Schrott, was in der Nachkriegszeit ein einträgliches Geschäft war. Wenn Mistkuhlen, die sich damals noch zahlreich auf den Höfen befanden, abgepumpt und geleert wurden, waren wir zur Stelle, denn in diesen Mistkuhlen war alles versenkt worden, was man irgendwann verschwinden lassen musste, und das wir zu Geld machen wollten: Uniformen, Parteiabzeichen, Fahnen, Munitionskisten, gusseiserne Adler mit ausgebreiteten Schwingen, die aus dem Mist gezogen, vor Jauche triefend, immer noch das Hakenkreuz in den Krallen hielten, Krads und Waffen jeder Art. Aus einer der Kuhlen zogen wir einen amerikanischen Willys Jeep mitsamt den Insassen; der alte Knuppeglas, Helmuts Vater, machte mit dem Jeep und den Soldaten gutes Geld.
In meinem Roman „Winterbienen“ macht Egidius Arimond am Samstag, den 14. Oktober 1944, folgende Eintragung:
„Als ich nach der Entwarnung durch die Straßen gehe, klaffen überall Bombentrichter, ganze Häuserreihen sind verschwunden. Tote liegen nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet, auf den Straßen, Häuser brennen und stürzen in sich zusammen, die heißen ätzenden Dämpfe des Sprengstoffs verstopfen mir die Nase. Als ich zum Marktplatz komme, hängen oben in den Ästen der Kastanien Hosen und Jacken.“
Einige Tage später, am Freitag, den 27. Oktober 1944:
„…Verwundete werden abgeladen und auf die letzten freien Feldbetten im Tanzsaal gelegt. Die Sanitäter lassen das Grammophon laufen, singen die lustigen Schlager mit und lachen, während sie die Toten nach draußen tragen und ihnen dort die Uniformen ausziehen. Die einen sortieren sorgfältig die noch brauchbaren Kleidungsstücke, die anderen verhüllen die Toten mit Decken, unter denen sich ihre nackten Körper deutlich abzeichnen. So liegen sie den ganzen Tag auf dem Platz vor der Gaststätte. Die gelben Blätter der Schwarzerlen fallen auf die Toten und den Fluss. Fliegen sammeln sich auf den feuchten, blutigen Decken und in der angenehmen Wärme der späten Oktobersonne hängt der Leichengestank.“
Die verheerenden Folgen des Krieges stellen jede Möglichkeit seiner Legitimation in den Schatten.
Aber was ist in diesem Zusammenhang überhaupt die Aufgabe der Literatur, wobei ich vorausschicken muss, dass es die Aufgabe der Literatur im eigentlichen Sinne nicht gibt. Wohl aber gibt es die Autorin oder den Autor, der zu einem bestimmten Thema ein Gedicht, eine Geschichte oder ein Drama schreibt.
Im Jahre 1917, also noch während des ersten Weltkrieges, veröffentlicht Walter Hasenclever seine Nachdichtung der Antigone von Sophokles. Sein Drama war bald nach dem Erscheinen außerordentlich erfolgreich, es wurde auf allen großen deutschsprachigen Bühnen gespielt.
Hasenclever sieht in Antigone eine Frau, die sich gegen die Staatsräson auflehnt, um ihrem toten Bruder die letzte Ehre zu erweisen. Dieser Konflikt zwischen Staatsgewalt und religiösem Gewissen, äußerem Zwang und Entscheidungsfreiheit, wird im Vollzug des Begräbnisrituals zum Ausdruck gebracht. Anders als ihre zur Mäßigung mahnende Schwester Ismene, rebelliert Antigone gegen den Herrscher Kreon, indem sie den Leichnam ihres Bruders Polyneikes, der von Kreon als Landesverräter diffamiert worden ist, bestattet. (Hrsg. Lutz Walter, Antike Mythen und ihre Rezeption, Stuttgart 2009, S.23)
Ich werde diese Geschichte hier nicht vollständig erzählen, denn viele werden die Antigone des Sophokles noch aus ihrer Schulzeit kennen und diejenigen, die die Tragödie nicht kennen oder vergessen haben, sei die Fassung von Walter Hasenclever empfohlen.
Hasenclever zeigt in seiner Antigone, wie in Kriegszeiten Opportunismus und Kompromissbereitschaft überhand nehmen, wie durch Propaganda auch Konformitätsdruck erzeugt wird. Diesem Konformitätsdruck stellt Hasenclever eine Frau gegenüber, die sich einer höheren Moral verpflichtet sieht und diese unter Lebensgefahr verteidigt. Ist Ismene, Antigones Schwester, mit ihrer Angepasstheit, dem Willen, zu vergessen und ein glückliches Leben zu führen, im Recht, oder ist der moralische Rigorismus Antigones der richtige Weg, ungeachtet, dass sie für ihre Einstellung ihr Leben aufs Spiel setzt?
Der Zuschauer muss sich bei dem Drama Hasenclevers entscheiden, welche Handlung der Protagonisten die richtige ist. Dies entspricht aber nicht dem realen Leben, in dem wir uns immerzu von Autoritäten beeinflussen lassen – wobei dann die Gefahr besteht, dass wir nicht selbst denken, sondern nur nacherzählen, was wir irgendwo gehört, gelesen oder gesehen haben. Und je öfter wir die Dinge sehen oder hören, umso eher glauben wir sie, gehen davon aus, sie seien wahr, übernehmen sie in unser Weltbild und halten sie letztendlich sogar für unsere eigenen Gedanken. Aber von den meisten Dingen, die auf der Welt geschehen, haben wir selten das nötige Wissen und wir müssen darauf vertrauen, was uns berichtet wird.
Die Literatur verhält sich demgegenüber anders. Sie bekennt sich zur Fiktionalität, und der Autor oder die Autorin verhält sich in dieser Situation m.E. wie ein Kind, das in einem Spiel die Wirklichkeit bestenfalls so simuliert, als sei das Spiel die Wirklichkeit.
Vielleicht sollten wir angesichts dessen das reale Leben zuweilen wie ein Schauspiel auffassen und Nachrichten und politische Diskussionsrunden wie Bühnenstücke betrachten, wir sollten dabei sehr genau auf die Besetzung des Personals, die Vorgeschichten, auf die Interessen der Diskutanten achten, ihre Kostüme, ihre Sprache, die Mimik, ihre Gesten, eben genauso, als würden wir im Theater sitzen.
Und umgekehrt sollten wir einen Roman lesen oder ein Theaterstück sehen, als wäre es nicht Fiktion, sondern die pure Realität. Wenn Literatur gelungen ist, vermittelt sie genau dieses Gefühl, als würden wir im Roman ein Stück Wirklichkeit erzählt bekommen. Ich glaube deswegen hören wir auch gerne, dass ein Film oder ein Roman von einer authentische Lebensgeschichte berichtet.
Auch ich spiele beim Schreiben, ebenso wie Walter Hasenclever, ein Spiel, bei dem es um Erfüllung und Verzweiflung geht. Geheimnisse der Lebensbewältigung zu erzählen, ohne sie zu verraten, in den Geschichten Wahrheiten aufzuzeigen, deren Kern die Leserin und der Leser selbst entdecken muss, ist eins der Ziele, das ich mir für das Schreiben setze. Vielleicht übermale ich auch die Wirklichkeit mit meinen Farben und illustriere damit meine Sicht auf die Dinge.
In den „Winterbienen“ werden Juden zur Belgischen Grenze gebracht, wo sie vom dortigen Widerstand weitergeleitet werden. Der Roman spielt 1944, der Zeit der Ardennenoffensive, in der sich die Eifel im Zentrum des Krieges befindet. Der Erzähler ist ein Epileptiker, ein ehemaliger vom Dienst suspendierter Gymnasiallehrer und Bienenzüchter. Er bringt unter Lebensgefahr Flüchtlinge, versteckt in seinen Bienenkästen, zur Belgischen Grenze. Einerseits rettet er dadurch das Leben der Juden, andererseits braucht er das Geld, das er dafür verlangt, für seine Medikamente. Er tut also unter Lebensgefahr etwas sehr Ehrenwertes, andererseits motivieren auch egoistische Interessen sein Handeln. Der Roman hat einen ganz realen Hintergrund, über den der Filmemacher Dietrich Schubert recherchierte und eine sehr sehenswerte Dokumentation mit dem Titel: „Nicht verzeichnete Fluchtbewegungen“ gemacht hat. Schubert fand etwas heraus, was bis dahin kaum bekannt war. Tausende jüdische Flüchtlinge wurden damals von den Eifeler Bauern durch die unwegsamen Eifelwälder zur Belgischen Grenze gebracht. Manche haben dafür Geld von den Flüchtlingen verlangt. Ist ihre Handlung deswegen unmoralisch?
Wenn Literatur eine ernst zu nehmende Aussage über die Wirklichkeit machen möchte, kann sie dies nur aus der Anschauung und Erfahrung und aus einer überschaubaren Sphäre tun, aus all dem, was der Autor in irgendeiner Weise erfahren hat. „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“, schreibt Kant. Dies impliziert die Forderung nach Versinnlichung des Gedachten und nach begrifflicher Fassung des Sinnlichen. Sinnlichkeit und Verstand sind demnach im Prozess der Erkenntnis zwar distinkte, aber aufeinander angewiesene Vermögen. Dies trifft auf den Erkenntnisakt wie auch auf das Entstehen eines literarischen Textes zu, man könnte es mit Kant auch als Bedingung der Möglichkeit von Literatur bezeichnen. Aber der Autor muss für seine Anschauungen und Erfahrungen nicht unbedingt in der ganzen Welt herumreisen – was wir dort erfahren sind meist doch nur Erfahrungen aus zweiter Hand. So schreibt Cusanus, in einem unendlichen Universum gebe es keinen bevorzugten Standpunkt und daher sei jeder Ort in der Welt zugleich Peripherie und Zentrum zugleich. In meiner Literatur ist ein kleines Städtchen in der Eifel das Zentrum des Universums, aber es ist ebenso auch ein mythologischer Ort, wie das mythische Theben bei Hasenclever, wie Dublin im Ulysses von James Joyce oder wie William Faulkners ebenfalls fiktives Yoknapatawpha County.
In „Am Grund des Universums“ werden die Menschen beschrieben, die in einem Supermarkt-Café in Kall zusammentreffen. Die Stammgäste, eine Gruppe alter Männer, die Grauköpfe, kommentieren dort wie ein griechischer Chor das Geschehen in der Region. Ich sitze oft in dieser Cafeteria des REWE-Marktes, dort wo ich die ganze Welt zu sehen bekomme, ohne mich vom Fleck zu bewegen: Afghanen, Pakistani, Syrer, Türken, nun auch Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, natürlich Eifeler und sogenannte Zugezogene und Durchreisende. Ich befinde also mich also zeitgleich irgendwie überall auf der Welt, an einem Ort, wie ihn auch Herman Melville ihn in Mobby Dick beschreibt:
„…an Island far away to the West and South. It is not down on any map; true places never are.“
Ein Ort also, der überall und nirgends zu sein vermag, der auf keiner Karte verzeichnet ist, – so ist das mit literarischen Orten.
„Aus dem Einkaufsmarkt hört man Musik und Handy-Klingeltöne, die feixenden Grauköpfe, kichernde Frauen, das Klappern des Geschirrwagens, giggelnde Schulmädchen, Husten und Röcheln, tratschende und schnatternde Omas, die soeben eingetreten sind. All die Töne schweben wie Seifenblasen schillernd zwischen Stühlen und Tischen, steigen unruhig unter die Decke, platzen oder vereinigen sich und tanzen zusammen umher. Immerzu entstehen so neue Worte. Nina glaubt, zwischen den Stimmen ihre Mutter singen oder auch Gregor lispeln zu hören. Sie öffnete ihre Augen nicht, sondern träumt weiter. Es gibt Nachmittage, an denen die Unterhaltungen an den Tischen ganz plötzlich ersterben, an solchen Tagen schlägt das Herz der Cafeteria wie das einer schnurrenden Katze, ein warmer Luftzug, von dem man nicht weiß, woher er kommt, weht durch den Raum, ein Hauch von Hoffnung ist darin, der die Sinne eines jeden zu öffnen vermag.“
In „Am Grunde des Universums“ wird unter anderem von dem Soldaten Paul Arimond erzählt, der gerade verletzt und traumatisiert aus Afghanistan zurückgekehrt ist und der sich nur sehr schwer wieder in seinem Heimatort zurechtfindet.
In „Die Sprache der Vögel“ wird die vorangegangene Geschichte dieses Soldaten in Afghanistan erzählt. Ich habe in „Die Sprache der Vögel“ versucht Afghanistan, anders zu zeigen, als wir es vom Fernsehen her kennen, als ein wunderschönes Land, welches reich an Kulturdenkmälern und exotischen Landschaften ist. In den Berichten aus dem Fernsehen sahen wir zumeist nur ein karges, staubiges von Panzern durchkämmtes Land, stereotype Darsteller vor dem Hintergrund eines grausamen Krieges. Aber Schönheit und Hässlichkeit, Grausamkeit und Liebe existieren immer zugleich und meines Erachtens ist es die Aufgabe der Literatur, ein nahezu vollständiges Bild zu zeichnen.
Ich fasse diese Problematik mit den Worten des Bonner Philosophen Markus Gabriel zusammen:
„Die ästhetische Erfahrung ist niemals total und reklamiert deswegen stets ein logisch-semantisches sowie ontologisches Sonderecht. Kunst ist Schein, der Sein ist. Sie ist und bleibt ambivalent.“ (Fiktionen, Berlin 2020, S.95)
Ich möchte bekräftigen, dass auch das, was wir als Wirklichkeit zu erkennen glauben, niemals die ganze Wirklichkeit ist – vor allem nicht in der heutigen Zeit, in der wir mehr und mehr in einer medial vermittelten Welt leben, in der das Wenigste von dem, was wir wissen, aus eigener Erfahrung stammt.
Als ich für „Die Sprache der Vögel“ recherchierte, fiel mir abends im Fitnesscenter ein junger Mann auf. Wie man mir später erzählte, war er jeden Tag dort, rannte unglaublich schnell auf seinem Laufband, solange bis das Fitnesscenter um 22.00 Uhr schloss. Soweit ich weiß, sprach er mit niemandem auch nur ein einziges Wort. Eines Abends kam eine junge Frau mit Kopftuch und muslimischer Kleidung ins Studio, in der sie auch trainierte. Jemand machte eine abfällige Bemerkung über sie, die der Läufer wohl gehört haben musste, denn er sagte daraufhin, ziemlich laut und sichtlich erregt, vielleicht das einzige Mal:
„In Afghanistan ist das normal, und was diese Bemerkung überhaupt solle.“
Erst dadurch erfuhr ich, dass der junge Mann als Soldat in Afghanistan gewesen war. Ich wollte mehr von ihm über das Land und den Krieg dort erfahren, aber er wies mich barsch zurück. Er sagte, er würde nicht mit Zivilisten darüber reden, die könnten das niemals verstehen, niemand, der nicht dort gewesen sei und das erlebt habe, könne das verstehen. Dann ist er auf seinem Laufband schweißtriefend weitergerannt, als würde er immer noch vor den Dämonen des Krieges fliehen müssen.
Afghanistan, Montag, 26. Mai 2003
„Die Bomben sind um die Mittagszeit explodiert und haben Krater in die Straße gerissen. Als wir zwei Stunden später ankommen, stehen Leute am Straßenrand. Ich springe aus dem Dingo, haste zu einem Bündel auf dem Gehsteig, ein Mann vom Staub bedeckt. Die Explosion hat ihm die Kleider vom Leib gerissen, ihn in zwei Hälften zerfetzt, seine Eingeweide verteilen sich um ihn, ein Bein hängt über seiner Schulter. Als ich mich neben ihn hocke, hebt und senkt sich sein Brustkorb; dann ist er mit einem Mal völlig reglos. Ich streife Latexhandschuhe über, sammle seine Körperteile auf, lege sie in eine Decke und trage sie zum Krankenwagen.“
Ich wiederhole mich … die verheerenden Folgen des Krieges stellen jede Möglichkeit seiner Legitimation in den Schatten.
Im Dialog der Antigone mit ihrer Schwester Ismene weigert sich diese, ihr bei der Beerdigung ihres im Krieg gefallenen Bruders Polyneikes zu helfen. Sie möchte ihr Leben nicht riskieren, möchte die Grausamkeit des Krieges vergessen, endlich wieder glücklich und in Frieden leben. Walter Hasenclever lässt Antigone an einer für das Drama zentralen Stelle erwidern:
„Wären alle Menschen blind, dann fielen
Schläge in den ungewissen Raum;
Sie müssten, weil sie hilflos sind, sich lieben“…
(Walter Hasenclever, Antigone, Berlin 1918, S.21)
Ende