Aus der Laudatio von Doris Lauer für Jenny Erpenbeck
(WHG-Jahrbuch 2016/ 2017, S. 25–32)
Ihre Themen findet Jenny Erpenbeck in den aktuellen Problemen unserer Zeit, mit denen sie selbst konfrontiert ist und in die sie mehr oder weniger eng auch persönlich eingebunden ist.
Dabei interessiert wie besonders die Nahtstelle, an der bisher Gültiges aufgegeben und ein Neuanfang gewagt werden muss – der Punkt also, an dem Menschen in ihrem Innersten ange-rührt und erschüttert werden. Diesem neuralgischen Punkt nähert sie sich in ihrer Prosa nach sorgfältigen Recherchen mit klarem Blick und großer Sensibilität.
Die oftmals mit einem solchen Umbruch verbundenen Verstörungen sind bereits Thema ihres Debütromans von 1999, der Geschichte vom alten Kind. Hier schildert sie auf anrührende Weise, wie die Protagonistin ganz allmählich aus dem belastenden, lähmenden Außenseiter-dasein, der dumpfen Isolation der Andersartigkeit herausgelöst und einer wenn auch noch ru-dimentären Kontaktbereitschaft und Kontaktfähigkeit zugeführt wird.
In der Sammlung von Erzählungen, die 2003 unter dem Titel Tand erschien, beleuchtet sie die Vielfalt und Verschiedenartigkeit menschlicher Beziehungen. Sie beschreibt die Bedingungen und Bedingtheiten des Lebens, die sich durch plötzliche Einbrüche oder das monotone Dahin-fließen der Zeit ergeben. […]
In einem wunderbaren, präzisen Stil und durch ungewöhnliche, starke Bilder, die jede Nuance treffen, vermittelt die Autorin allein durch die Kraft des Erzählens Begegnungen, Veränderun-gen, Erinnerungen, mit denen Menschen konfrontiert sind und an denen sie wachsen oder scheitern, erstarken oder zerbrechen.
Dass in solchen Wandlungsprozessen auch die Sprache von gravierender Bedeutung ist, ver-mittelt Jenny Erpenbeck im Roman Wörterbuch von 2005. In einem zunächst rein imitativen, später znehmend kritischen Sprachaneignungsprozess erschließt eine Tochter sich ihre Le-benswirklichkeit und muss dabei am Beispiel des geliebten und geachteten Vaters erkennen, wie verlogen, verschleiernd und gewalttätig Worte sind, wie wenig wahrheitsgetreu und ver-trauenswürdig Sprache sein kann – und wie sehr sie den prägt, der sie lernend aufnimmt.
[Im aktuellen Roman
Gehen, ging, gegangen will der emeritierte Professor Richard sich über die Situation der Flüchtlinge informieren, die in Berlin Straße und Plätze besetzen.]
Mit ihm begegnen die Leserinnen und Leser fremden Kulturen und Lebenswelten, lernen individuelle Schicksale kennen und treffen auf unbekannte Denksysteme mit völlig anderen Maßstäben. Sogar die Sprache mit ihrer mitteleuropäischen Begrifflichkeit scheint nicht mehr zu passen, um die fremde Wirklichkeit zu erfassen. […] Da die bisher für Richard gültigen Kategorien nicht mehr greifen, versteht er, dass es auch an ihm ist, seine Urteilskriterien zu modifizieren. Er, der anfänglich nur sehen und sich informieren wollte, gerät ins Staunen über ihm bis-lang unbekannte Sachverhalte und Möglichkeiten. […] Er ist erschüttert über die fremden Schicksale – und über sein eigenes Nichtwissen, empfindet Scham darüber, „dass er es sich die längste Zeit seines Lebens so leicht gemacht hat“. [So versucht er], seine Position und seine Sprache neu zu definieren, was nicht gerade erleichtert wird durch die Tatsache, dass in der Fülle seiner Begegnungen und Erfahrungen Sinnhaftes und Absurdes oft nahe beieinander liegen.
Walter Hasenclever […] hat leidvoll und bitter erfahren, was es bedeutet, verfolgt zu werden, fliehen zu müssen. […] Er, der in seinem Leben gewiss auch viele Erfolge und Höhepunkte erleben durfte, war am Schluss einer von jenen, deren Schicksal das Leben des Protagonisten Richard durcheinander wirbelt, und denen Jenny Erpenbeck eine Stimme gibt – im besten Sinne von Albert Camus, der 1953 in Stockholm in seiner Dankesrede zum Literatur-Nobelpreis sein Verständnis von der Aufgabe des Schriftstellers sinngemäß so beschrieb:
Der Schriftsteller darf sich nicht in seiner Kunst isolieren. […] Weil er eben in besonderer Weise der Sprache mächtig ist, muss er seine Ehre darein setzen, für die zu sprechen, die sich gerade nicht äußern können. […] Die Noblesse der schriftstellerischen Kunst zeigt sich in zwei schwer zu tragenden Verpflichtungen: der Weigerung zu lügen über das, was man weiß, und dem Widerstand gegen Unterdrückung und Demütigung.