Aus der Dankrede von Marica Bodrozic 2020

Die Preisträgerin des Jahres 2020 betonte in ihrer Dankrede: „Die Welt der Sprache war für Walter Hasenclever schon sehr früh eine der Rettung und des Denkens, des Durchdenkens von Welt. Das verbindet mich auf eine so existenzielle Weise mit ihm, dass ich es eigentlich nur mit meinem Werk zeigen und hier nur sagen kann.“ Sie geht auch auf die Bedeutung der geschwisterlichen Beziehung Hasenclevers ein: [In ihren Briefen, die Walter Hasenclever und sein Bruder Paul austauschten, wird eine große Nähe spürbar.] „Und wenn man weiß, dass Walter Hasenclever hinter dem Rücken des strengen Vaters es gewagt hat, eine Beziehung zu seinen Geschwistern aufzunehmen, kann man auch ermessen, was ein Brief vom 29. August 1938 aus London bedeutet, den er Paul schreibt: „Mein guter alter Paul!  Dank für den 27. 8.  Die Welt sieht heute so bedrohlich aus, dass man in den nächsten Tagen alles erwarten kann. Ich werde am Ende dieser Zeit beweisen können, dass ich nicht umsonst gelebt habe.“ Kann man einen solchen Satz überhaupt jemandem sagen oder schreiben, der einem nicht so nahe steht, wie es Geschwister tun? „Bruderherz an der Nordsee“ nennt Walter Hasenclever seinen Bruder Paul in einem anderen Brief. „Cuor mio“ ‒ mein Herz ‒ nennt Paul ihn wiederum, ebenfalls 1938, wo er in Westerland auf der Insel Sylt bis zu seinem Tod 1988 lebte. „Goldpaul“ und „Walterbruder“, der Innigkeit ist es eigen, verschmelzende Kräfte zu spiegeln. Aber diese Briefe lassen nicht nur, in Verbindung mit dem literarischen Werk Walter Hasenclevers, an die deutschen Geistesgrößen weit entfernter Zeiten denken, sondern auch an einen Menschen, der wie der Namensgeber dieses mein Werk ehrenden Literaturpreises in jenen dunklen Jahren des nationalsozialistischen Wahns im Exil seinem Leben ein Ende setzte, wo es, nur einen oder zwei Tage später, auch hätte neu beginnen oder anders weitergehen können. Ich denke, Sie werden es vielleicht schon geahnt haben, an den anderen und ähnlich nach Jahren des Exils in Not geratenen Walter ‒ an Walter Benjamin, der uns vieles von rätselhafter Schönheit Leuchtende in seinem vielschichtigen Werk hinterlassen hat. Zu diesen Perlen seines Geistes gehört das bis heute wenig bekannte Buch “Deutsche Menschen. Eine Folge in Briefen“. In diesem Buch, das er unter Pseudonym herausgab, um es überhaupt noch publizieren zu können, hat Benjamin auch einen Brief von Wilhelm Grimm aufgenommen, der an Jenny von Droste-Hülshoff (die Schwester der Dichterin Annette) gerichtet ist, in dem er  über Sternbilder wie das von Cassiopeia oder vom Orion spricht und die er für die kluge Brieffreundin liebevoll in den Brief einzeichnet. Vielleicht ist auch dies ein Ausdruck der Demut vor den weit über uns leuchtenden Kräften, ist verbunden mit dem Innenraum der deutschen Sprache, die auch Walter Benjamins Identitätsausweis war. Für Walter Hasenclever gilt das auch. Zwar wählte er andere Wege dafür, aber auch sein Werk und Leben sind das Ergebnis einer geistigen Haltung, die historisch fundiert war, aber jede windig biegsame Zeitgenossenschaft überragte. Das war, wenn es auch nicht sein Leben rettete, von elementarer Bedeutung in einer Zeit, in der man vergessen zu haben schien, wie Benjamin unter Pseudonym darauf hinweisen musste, dass es eine Ehre ohne Ruhm gibt, eine Größe ohne Glanz und eine Würde ohne Sold. Menschen wie Benjamin und Hasenclever wussten aber auch etwas, das ganz nebenbei in einem Brief von Johann Gottfried Seume gesagt wird: „Furcht gibt Sicherheit“. Wer diese Sicherheit nicht will, kann schreiben: „Ich bin allein wie die Bäume, Die um mein Fenster stehn. In deren Schatten Träume Suchend im Garten gehn.“ Dieser Blick, offen, geweitet, spricht auch aus einem anderen Gedicht von Walter Hasenclever, in dem es um die Auferstehung des französischen Sozialisten Jean Jaurès geht, der von einem Nationalisten ermordet wurde. In diesem Gedicht lässt sich erkennen, dass Walter Hasenclever die Welt als einen großen und in Einheit sprechenden Zusammenhang wahrgenommen hat, in dem die Geschichte und das Weinen der Heutigen, die Kränze der Hoffnung und der von Unwissenden geschürte Krieg, blühende Zitronen und der unbeugsame Ruf „Aufwärts, Freunde, Menschen!“ miteinander Zwiesprache halten. Und so kann der größere, ja der gütigere Blick auch ins Höhere gehen, wenn es heißt: „An Euch, ihr Gestalten in der Höhe, Ergeht der Ruf: helft diesem Leben!“ In diesem Leben aber, das hat Walter Hasenclever gewiss in den letzten Monaten seiner irdischen Ausgesetztheit bitterlich am eigenen Leib erfahren, ist der Engel in der Höhe hier auf Erden ein Mensch, der einem anderen Wesen beisteht. Fehlt dieser Mensch, fehlt auch die Möglichkeit eines vollendeten Augenblicks, von dem Walter Hasenclever einmal eine seiner Figuren sagen ließ: „Ich begriff, dass es einen Augenblick geben müsse, wo wir unsere Hoffnungen erreicht und unser Wesen als vollendet empfinden.“ Wir, die wir hier und heute leben, wir haben immer noch die Möglichkeit, in diesen Augenblick einzutreten und uns selbst als Unwissende zu begegnen. Denn Bescheid zu wissen, das schützt uns nicht, nur die Offenheit des Lebens und seine großen Verwandlungen können uns mit der Höhe verbinden, die uns Kraft gibt, jeden Tag aufs Neue unsere Freiheit und damit den Frieden in uns selbst zu gestalten.    Auszug aus Bodrozic-Dankrede für Homepage