Literaturpreis-Geehrte sprechen von Hasenclever
Literaturpreisträgerinnen und Literaturpreisträger
sprechen in ihren Dankreden über Walter Hasenclever
Vorbemerkung
Wenn wir uns im Leben für Geschenke bedanken, ist es durchaus üblich, dass wir dies mit einer Geste tun, die der Art des Geschenks entspricht. Eine Auszeichnung aber ist kein Geschenk; ein Literaturpreis wird für literarisches Schaffen verliehen. Und von so Geehrten wird erwartet, dass nun der Dank so ausfällt wie der Anlass der Preisvergabe – im weitesten Sinne des Wortes literarisch.
Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die den Walter-Hasenclever-Preis zugesprochen bekommen, werden gleichzeitig mit der Tatsache konfrontiert, dass der Preis mit dem Namen dieses Schriftstellers aus einer ganz bestimmten Zeit verbunden ist – ein Literaturpreis mit dem Namen eines einst Verfemten in einem Terrorsystem, das Literaten verfolgte. Wie also mit den Erwartungen umgehen?
Die in den WHG-Jahrbüchern zu lesenden Dankreden zeigen (mit einer Ausnahme), dass es für die Preisträgerinnen und Preisträger in ihren Reden keinen „Pflichtteil“ für Hasenclever gibt, auch wenn sie sich hauptsächlich einem anderen Thema widmeten.
Marlene Streeruwitz, die zur Zeit ihrer Auszeichnung 2002 mit anderen Sorgen beschäftigt war – der gegenwärtigen Theaterkrise – sprach zu einem Lexikoneintrag über Hasenclever das Problem der „Entkontextualisierung“ in einer sehr lesenswerten kritischen Glosse an und band den Umgang mit seinem Werk in der Nachkriegszeit indirekt damit ein.
Friedrich Christian Delius sprach 2004 auch indirekt von Hasenclever, wenn er in seinem leidenschaftlichen Appell den unauflöslichen Zusammenhang von Literatur und Demokratie beschwor.
Herta Müller (Hasenclever-Preis 2006) nannte in ihrer eindrucksvollen Rede Hasenclever nur einmal mit Namen, um die Wirkungen von NS-Terror und ihre Beziehung zu dem SS-Mann darzustellen, der ihr Vater war – „ein Stück von dem Meister, den Celan in der Todesfuge hat.“ Damit aber galt ihre gesamte Rede auch dem Namensgeber ihres Preises.
Besonders anrührend empfanden viele Zuhörende Jenny Erpenbecks (Literaturpreis 2016) ganz aktuellen schmerzlichen Erfahrungen mit dem Tod des afrikanischen Freundes Bashir Zakaryau, der sich jahrelang um die Belange der Flüchtlinge in Berlin gekümmert hatte, und den sie mit Hasenclever und anderen in Verbindung brachte, um daran darzustellen, was es heißt, in fremder Erde begraben zu werden.
Es ist ja nicht selbstverständlich, dass die jeweils Geehrten mit dem Namen Hasenclever etwas verbinden können. George Tabori (Preisträger von 1998) bekannte in seiner Dankesrede, er habe Hasenclever vor dieser Ehrung gar nicht gekannt.
Michael Lentz (Hasenclever-Preis 2012) bewies dagegen in seiner fulminanten (einzig Hasenclever gewidmeten) Rede eine Kennerschaft, die aus dem Stand ein Universitäts-Seminar hätte ergeben können.
Seien es die Begründer der WHG, seien es die für sie arbeitenden Mitglieder oder die mit dem Literaturpreis Geehrten – für mich hat Christoph Hein (Preisträger 2008) in ganz besonderer, tief verstandener und ermutigender Weise die Aufgabe beschrieben, die die Hasenclever-Gesellschaft sich mit ihrer Arbeit um Leben und Werk des Dichters gestellt hat.
Die einzige Ausnahme – nämlich Hasenclever namentlich nicht zu nennen – erlebten die Zuhörenden in der „Dankesredelesung“ Oskar Pastiors (2000), der seinen Wasserfall von anagrammatischen Anmutungen aus der „Werkstatt für potentielle Literatur“ mit einem Dank an Hasenclever selbst schloss, den Dichter mit dem Fabelnamen ansprechend:
„Meister Lampe, ich danke.“
In den meisten Dankreden vermittelte sich die oft unausgesprochene, aber spürbare innere Beziehung zu einem Mann des Wortes, der dafür lebte, was auch diese oft mit Auszeichnungen Verwöhnten mit ihm verbanden: Sie sprachen von einem der Ihren.
Peter Rühmkorf ist voller Erinnerungen an die prägende Wirkung, die Hasenclever auf ihn als literaturbegeisterten Gymnasiasten ausgeübt hatte. Ralf Rothmanns Worte zu Hasenclever lassen tiefe innere Sympathie spüren. Wie Robert Menasse, der sein Leben im Vergleich zu dem Hasenclevers „pastellfarben“ nannte, betonte auch Michael Köhlmeier, in welch privilegierter Lebenssituation er seinen Schriftstellerberuf ausüben könne.
Die auf diesen Seiten zitierten Passagen aus den Dankreden sind nur unter diesem Auswahlaspekt zusammengestellt, dass Walter Hasenclever in ihnen erwähnt und gewürdigt wird. Sie sind also keine Zusammenfassung der in sich ausgewogenen Reden, die als Ganzes gelesen werden wollen. Sie sind in den WHG-Jahrbüchern aufgezeichnet.
Mit Ausnahme des Fotos von George Tabori stammen alle Fotos von J. Lauer, der auch die Textauswahl vornahm.
Peter Rühmkorf
Aus seiner Dankrede zum Hasenclever-Preis 1996
(WHG-Jahrbuch 1997, S. 67–68):
„Walter Hasenclever [gehörte] auch zu den großen Anregern meiner eigenen Lehr- und Aufbruchjahre.
Ich erinnere mich noch genau, wie wir uns in den späten Vierziger Jahren die Gedichte deutscher Expressionisten handschriftlich aus Bibliotheksbüchern kopierten, denn die Zeit war arm, und wir waren es auch.
Und was ich Ihnen hier hochzeige, das habe ich nicht gestern zu diesem Zwecke gemalt. Das habe ich mir als Siebzehnjähriger aus Soergels Literaturgeschichte herausgepaust:
Die Köpfe von Ernst Toller und Walter Hasenclever als Dioskurenpaar auf einer gemeinsamen Spielkarte …
Geschichten aus uralten Zeiten, als in den Nachkriegseisenbahnen noch das ‚Gasglühlicht summte’ und der Mangel an Vervielfältigungsmitteln auch das Auswendiglernen und mündliche Weitersagen beförderte.
Was einen als großen Nerveneindruck erreichte, das wollte man am liebsten auch den anderen mitteilen. Was einem an schlagenden Formulierungen, ausgefallenen Bildern, schneidenden Wendungen zu Herzen ging, das wollte verbreitet und weitergetragen sein.
Und weil Gedichte so ein leichtes und bewegliches Transportgut sind, kommunizierten wir in unserem kleinen Edelkreis am liebsten über einprägsame Gedichtstrophen oder doch wenigstens einige Zeilen …
Auch der Anruf aus Aachen [in dem ich von der Preisverleihung unterrichtet wurde] hat gleich wieder an solche alten Jugendglocken erinnert.
Aber es ist nicht dies allein. Auch halb vergessene Geschichten stießen auf einmal wieder ans Licht. Bewegende Begegnungen wurden wieder wach. So zum Beispiel, dass Ende der Fünfziger Jahre der langjährige Weggefährte Walter Hasenclevers und legendäre Herausgeber der expressionistischen Lyrikanthologie ‚Menschheitsdämmerung’ – Kurt Pinthus – im Rowohlt Verlag aufkreuzte und den kleinen Lektor Rühmkorf fragte, ob diese Verse von Aufbruch und Untergang ihm noch ein Begriff seien.
Ja, sagte ich damals, nicht nur die Gedichte, sondern auch die nachgefügten Lebensläufe …
Und auch als Pinthus in den frühen Sechzigern die erste Hasenclever-Auswahl nach dem Kriege zusammenstellte, war ich als Verlagskraft für die ‚Klassische Moderne’ ein ganz klein bisschen mit von der Partie.
Ich habe mir das 1963 erschienene Paperback dieser Tage noch einmal herausgeholt und meine alten Kreuze und Anstreichungen gemustert.
Wie heftig hat einen das alles auch im zweiten Durchgang noch bewegt und wie lange hat es gehalten. Wie stark war man einmal davon ergriffen gewesen und wie tief bis in die eigene lyrische Tonspur hinein hatte es einen schon in sehr frühen Zeiten geprägt …“
George Tabori
Aus der Danksagung für seine Ehrung mit dem Hasenclever-Preis 1998
(WHG-Jahrbuch 1998/99, S. 79–80):
„Man muss der Stadt Aachen dankbar sein, dass sie ihren Sohn Walter Hasenclever aus dem Dunkel hervortreten lässt. …
1933 kam, was man höflich ‚die Machtergreifung’ nennt.
Hasenclever lebte in Paris, aber in seinen Briefen findet sich keine Reaktion auf die Ereignisse in Deutschland.
Nicht aus Diskretion.
Wie viele von uns hat er damals die Nazis nicht ernst genommen.
Erst später hat er sich als Emigranten beschrieben.
Er war nicht ‚politisch’ wie er sagte. Aber bald wurde alles politisch …
Was treibt ihn umher?
Er reist ruhelos durch Europa, geht nach Lotusland in Hollywood, arbeitet am Film ‚Anna Christie’ für eine gewisse Greta Garbo.
Wie viele andere hasst er die Konfektionsarbeit, er kehrt nach Frankreich zurück.
Er mag es nicht zugeben, aber er ist ein klassischer Emigrant geworden.
Es fällt ihm schwer, dies zu akzeptieren, weil er sehr deutsch ist.
Aber das Vaterland ist nicht mehr das Land der Väter. Emigration wird ein böses Wort.
Und es sind die besten Deutschen – Tucholsky, die Brüder Mann, Brecht, Feuchtwanger, Döblin, Anna Seghes, Zuckmayer und viele, viele andere – die vertrieben sind …
Ich blättere in den Briefen, jeder sagt mir etwas.
Ich habe von Hasenclever nichts gewusst, jetzt ist er mein Bruder.
Vielleicht, weil immer wieder das, was ihn zu retten schien, selbst wenn er es als letzte Nachricht schickt, ein altmodisches Wort ist: die Liebe …
Ich danke denen, die mich dieser Ehrung für würdig gehalten haben,
und ich danke der Stadt Aachen, die mir diesen schönen Preis verliehen und mir diesen Bruder geschenkt hat.“
Marlene Streeruwitz
Aus ihrer Dankrede zum Walter-Hasenclever-Preis 2002
(WHG-Jahrbuch 2002–2004, S. 91)
In der Festgefahrenheit des deutschsprachigen Stadttheaters als Regietheater ist dieses Theater Bestandteil der Bewegung zum Populistischen hin oder ist schon längst Bestandteil des Populistischen. Die Behauptung vom Theater als Ort einer kritischen Gegenposition wird so zum Entlastungsritual vom Stress der Mehrheit einer Gesellschaft, die die Definition Mehrheit stets bereithalten zu müssen glaubt.
Unbewusst eilfertig liefert dieses Theater dann diese Entlastung in der historisierenden Entkontextualisierung, meist des Klassikers.
Die prachtvollsten Stücke Literatur werden dann zum entfremdenden Spielmaterial der anödipalisierten Gegenbewegung, die nur diesen kleinen Umweg nimmt, bevor sie in die Gesamtbewegung einschwenkt – einschwenken muss. Wenn ich also nun in einem Lexikon lese:
‚Hasenclevers Schriften der zwanziger Jahre und des Exils fanden literaturgeschichtlich wenig Bedeutung, unter anderem wegen der zeitlichen Gebundenheit der Stoffe’,
so wird mir beschrieben, dass sich die Stücke Hasenclevers nicht zur Entkontextualisierung eignen, dass ihre Form und Sprache auf der beabsichtigten Kontextualisierung bestanden und darin die Literaturhaftigkeit nicht zu entziehen war.
Dann werden Stücke nicht mehr gespielt, vor allem nicht mehr in dem Museum Theater, das ja doch immer ein Heimatmuseum des Menschenbildes als auf Übergeordnetes verweisendes geblieben ist. Und das heißt dann ‚literaturgeschichtlich wenig Bedeutung’.
Die Wissenschaft von der Literatur wird hier zur Handlangerin von Intendanten-Entscheidungen gemacht. Literaturgeschichtlich, dächte ich, wäre hier einer anderen Bedeutung nachzugehen als der, die die Theaterpraxis nach 1945 herstellte.
Aber was ist schon zu erwarten, wenn im gleichen Lexikon geschrieben steht:
‚Exilstationen waren unter anderen England, Italien und Frankreich. Hier wurde er 1940 interniert und nahm sich angesichts des Einmarsches der Deutschen nach Frankreich, einen Tag vor der möglichen Rettung, das Leben.’
Wenn schon Lexikoneintragungen nicht ohne historisierende Entkontextualisierung auskommen – und genau auf diese Art und Weise wird das dann fortgeschrieben, im Theater und in der Unterhaltung –
‚Heute kann gesagt werden, dass einen Tag später die Rettung möglich gewesen wäre’, diese Information als Zeitadverb in den Satz zu nehmen, in dem Hasenclever Subjekt ist und das Prädikat die Selbsttötung ausdrückt, bedeutet, die heutigen Informationen auf das Subjekt zu beziehen, das damals von der Rettung einen Tag später nichts wissen konnte.
Das ist Geschichtsschreibung, schlampig ist das, das soll wohl auch dramatische Wirkung entfalten: ‚Einen Tag später wäre der Selbstmord nicht notwendig geworden.’
Hätte er gewartet, hätte er durchgehalten – die Verantwortung wird dem Subjekt eines solchen Satzes zugeschoben.
Unter dem Entsetzen, das eine solche Information immer auslösen wird, watet schon die Zuweisung an das Subjekt zurück, und das ist ganz normale Textpolitik, das ist systemisch und auch hier wieder entlastend durch die Zurückverweisung an die Person, die diesen einen Tag nicht warten konnte.
Die Leser und Leserinnen können sich in dieses Zeitadverb flüchten, werden durch dieses Ineinanderverschränken der Zeitebenen entlastet, nicht anders als im Theater.
Und von diesem Beispiel ausgehend ist es eine Leistung der Texte von Walter Hasenclever, sich dem Theater entziehen zu können.
Friedrich Christian Delius
Aus seiner Dankrede zum Walter-Hasenclever-Preis 2004
(WHG-Jahrbuch 2002–2004, S. 144 f.)
Hängen der Trend zum Analphabetismus und der neue politische Analphabetismus,
hängen der ästhetische und der moralische Verfall zusammen, und wenn ja, wie?
Diese Frage beschäftigt mich, und ich kann sie mit Schiller nur bejahen:
Ohne die ‚Ausbildung des Empfindungsvermögens’, ohne die Kultivierung der Sinne
keine Freiheit.
Ich will jetzt nicht Schillers Theorie entfalten, sondern nur mit seiner Autorität das Selbstverständliche unterstreichen, das inzwischen auch Hirnforschung und Bildungsforschung belegen:
Ohne musische Fähigkeiten gibt es keine gesellschaftlichen Fähigkeiten,
ohne Emotionalität keine Vernunft,
ohne ein Sensorium für die Künste gibt es kein Sensorium für die Demokratie,
ohne die Literatur, beispielsweise, versinken wir in Barbarei.
Barbarei sage ich mit Absicht. Seit sich der deutsche Horizont aufs Sparen reduziert hat
(das gar kein Sparen im Sinne des Wortes ist, sondern bloß Streichen und Kürzen)
wegen der politischen und wirtschaftlichen Milchmädchenrechnungen der letzten Jahrzehnte und wegen des 11. September, herrscht eine neobabylonische Sprach- und Begriffsverwirrung, hoch gefährlich für die demokratische Substanz …
Für alle Kosten-Nutzen-Denker sage ich: Wer die Kultur- und Bildungspolitik nicht als Investition gegen ideologische Verblendung und damit als langfristiges und überdies preiswertes Antiterrorismusprogramm betrachtet, der hat aus dem 11. September nichts gelernt. Und der kriegt zur Strafe mein Lieblingszitat von Goethe an den Kopf geworfen:
‚Und wer der Dichtkunst Stimme nicht vernimmt, ist ein Barbar, er sei auch, wer er sei.’
[Den Widerstand gegen den Terror ihrer Zeit haben Millionen] mit dem Leben bezahlt, wie Walter Hasenclever, der sich selbst umbrachte, um nicht von den Naziterroristen umgebracht zu werden. Der mit seinen Dramen den Krieg und die Kriegslust, die Barbaren und falschen Autoritäten, die Opportunisten und Schwindler mit aller Kraft seiner Worte kritisiert, ja attackiert hat und der gewusst hat, was Zensur ist.
Also ist mein Dank für diesen Preis … auch ein Dank dafür, dass ich hier und heute, gut sechzig Jahre später, frei sprechen darf – wie Walter Hasenclever nicht … und wie viele Schriftsteller in so vielen Ländern auch heute nicht.“
Christoph Hein
Aus seiner Dankrede zum Walter-Hasenclever-Preis 2008
(WHG Jahrbuch 2008/2009, S. 17 f.)
„Lassen Sie mich über Walter Hasenclever sprechen.
Fünfzig Jahre war Hasenclever alt, als er, in einem französischen Lager interniert, Selbstmord beging.
Er war einer der wichtigsten Dramatiker und Lyriker des deutschen Expressionismus,
seine Stücke wurden nach dem Ersten Weltkrieg von vielen Bühnen aufgeführt.
Dann wechselte die Mode, die expressionistischen Stücke verschwanden von den Spielplänen, und Hasenclever schrieb nun sehr erfolgreiche Unterhaltungskomödien.
Mit Hitlers Machtantritt war auch diese Zeit für ihn beendet, er musste emigrieren.
Als die Franzosen ihm keinen Schutz mehr boten, sondern dem Druck des Dritten Reiches nachgaben und ihn wie viele andere deutsche Antifaschisten festsetzten, um ihn auszuliefern, floh er nochmals, emigrierte er in den Tod.
Nach 1945 erschienen seine Texte in Deutschland erneut, seine Stücke wurden von den deutschen Bühnen wieder gespielt. In meiner Jugend konnte ich mehrfach Komödien von Walter Hasenclever sehen. Die Theater und das Publikum schätzten seine leichten, amüsanten Lustspiele. Dann wechselte die Zeit aufs Neue und mit ihr die Moden, und heute wird Hasenclever nicht mehr gespielt. Den neuen Generationen sagt sein Name nichts, er scheint vergessen zu sein.
Die Walter-Hasenclever-Gesellschaft wehrt sich gegen diese Auslöschung, setzt Zeichen gegen dieses Vergessen. Das ist umso verdienstvoller und ehrenwerter, als es nicht nur ein Signal gegen die Zeitmode ist, sondern auch Widerstand gegen einen Sieg von Hitler bedeutet, ein Widerstehen gegen die Barbarei, gegen den Versuch einer Auslöschung, die das Dritte Reich an der deutschen Kultur und den Künstlern mit nachhaltigem Erfolg vornahm …
Die geistige Elite verschwand damals, viele starben in deutschen Lagern, im, Elend der Fremde oder – wie ein Hasenclever oder Tucholsky – verzweifelt durch Selbstmord.
Von denen, die überlebten, kamen einige zurück. Sie bemühten sich, so rasch wie möglich in ihr Vaterland zurückzukommen, denn man kann einen Menschen aus seiner Heimat nehmen, aber nicht die Heimat aus einem Menschen. Sie kamen sehnsuchtsvoll zurück, doch diese Rückkehrer, denen man das Vaterland genommen hatte, galten nun vielen Deutschen als Vaterlandsverräter. Man hatte sie vergessen und verstoßen, ihre Rückkehr riss alte Wunden auf, an die man nicht erinnert werden wollte.
Hätten Hasenclever und Tucholsky überlebt und wären sie zurückgekommen, ihr Schicksal im neuen Deutschland wäre wohl kaum glücklicher verlaufen als das eines Walter Mehring. Der zurückkam, um hier, völlig vergessen, zu verhungern.
In wenigen Jahren hatte Deutschland seine Größe verspielt, eine Größe, die unstrittig war und weltweit anerkannt. Das Verspielen geht stets schnell und leicht.
Spielend zurückgewinnen lässt es sich nicht, das geht nur sehr langsam, Schritt für Schritt …
Wie Sie bemerken, spreche ich immer noch über Walter Hasenclever, den fast vergessenen Sohn der Stadt, der sich umbrachte, als jene Welt, der er sich mit all ihren Werten verbunden fühlte, an die er existentiell gebunden war, in den Abgrund gerissen wurde, als Deutschland unterging, als seine Größe verspielt wurde.
Das Wissen um das Verlorene aber kann uns helfen, das wache Bewusstsein von vergangener Größe, von Verlust und beängstigender Schuld kann uns motivieren, bewegen, voranbringen. Denn zum Lernen und Hinzulernen gehört auch das Nicht-Vergessen, das Sich-Erinnern. Darum ist der Hasenclever-Gesellschaft zu danken: sie sorgt sich nicht allein um die Erinnerung an einen Schriftsteller, sondern mahnt an deutsche Geschichte, an eine große, aber auch an eine grauenvolle Zeit, die wir überstanden haben, an eine schwierige, eine schwere deutsche Geschichte, einen Kulturbruch, der Deutschland veränderte und der wohl noch für Jahrhunderte das Bild der Deutschen im Ausland prägen wird.“
Ralf Rothmann
Aus seiner Rede zur Verleihung des Walter-Hasenclever-Preises 2010
(WHG-Jahrbuch 2010/2011, S. 13 f.)
Walter Hasenclevers Naturell, soweit ich es aus seinen biografisch getönten Werken erkennen kann, war eines, das mir nicht ganz unvertraut ist.
Feinnervig, scheu, humorvoll und dennoch mit einer Anlage zur hysterischen Selbstbehauptung und zum nervösen Magenleiden; in der Jugend mit großem Feuer revoltierend, im Mannesalter dem Eros in allen Spielarten verfallen, und in den reiferen Jahren, wenn die mühsam erarbeiteten Antworten auf die Fragen des Lebens schon wieder brüchig werden, sich der Mystik überlassend.
Auf den Fotos, die es von ihm und Tucholsky, Sieburg, Toller, Werfel oder Pinthus gibt, sieht er stets ein wenig abgesondert und vereinzelt aus. Offenbar fehlte ihm die fraglose Chuzpe, von der einige seiner Freunde zu viel hatten. Dabei fühlte und dachte er – das zeigt nicht nur sein Roman Irrtum und Leidenschaft oder das hellsichtige Nachwort zu seiner Swedenborg-Übersetzung – oft tiefer und weiter als seine wortgewaltigen und auftrittssicheren Kollegen. Beflügelt von fernöstlicher Spiritualität, wagte er sich immer wieder in Bereiche jenseits des Denkens, also der Sprache, und ich kann mir vorstellen, dass er ihnen deswegen nicht selten suspekt war, zumal er über eine Eigenschaft verfügte, die auch heute nur die wenigsten Schriftsteller haben, und die sein Verleger Kurt Wolff, der ihn dreißig Jahre lang kannte, in dem Satz zusammenfasste:
„Es war so schön, dass er sich durchaus nicht ernst nahm.“
Das ist erstaunlich bei einem, auf dessen Lebensweg, auch auf den steinigen Abschnitten, immer der Säulenschatten der Weimarer Republik lag.
Die Sprache Goethes zu sprechen bedeutete ihm Erbe und Verpflichtung, und oft genug mochte er auf ihren Papierklang, den es hier und da gibt, und den Gestus der Bedeutsamkeit hereingefallen sein. Aber auch wenn sie von demselben gebraucht wurde, die zweimal in seinem Leben die Welt mit Tod und Terror heimgesucht haben, blieb sie ihm stets Ausdruck der Humanität und Wortlaut des Menschenmöglichen im besten Sinn.
An ihr, mit ihr und durch sie bildete sich sein Selbstverständnis heraus, seine Persönlichkeit – eine stets gefährdete, oft sich zerquälende und am Ende resignierte, das ist bekannt, aber doch von beispielhafter Unbestechlichkeit, deren Würde heute noch Kraft und Zuversicht zu geben vermag. …
Dass einer wie Hasenclever nicht seinen Humor und seine Selbstironie verlor, dass er immer wieder die Kraft aufbrachte, sich und seine Leiden nicht allzu ernst zu nehmen, und dabei doch ein mitfühlender und bis zuletzt fürsorglicher Mensch blieb, sogar noch im Gefangenenlager, zeugt von seiner Größe, die einen deswegen auch so anrührt und bestärkt, weil sie Ausdruck dessen war, was immer der goldklare Gipfel jeder persönlichen Entwicklung sein wird: Innere Freiheit.
Sie, die sich der lebenslangen Hingabe an die geistigen, erotischen und metaphysischen Möglichkeiten der Poesie verdankte, war sein eigentliches Haupt- und Meisterwerk, und noch der letzte, der allerletzte Schritt, den er wagte, war Ausdruck dieser Freiheit.“
Michael Lentz
Aus seiner Dankrede zum Walter-Hasenclver-Preis 2012
(WHG-Jahrbuch 2012/2013, S. 9 f.)
„Denn ich glaube, von allen Autoren, die zwischen 1910 und 1930 als neuartig, wichtig, einflussreich, viel aufgeführt und viel gelesen galten, ist Walter Hasenclever, einst einer der Anerkanntesten, heute einer der Unbekanntesten und Verkanntesten.“
Hätte diese Feststellung nicht Kurt Pinthus bereits 1962 getroffen, könnte sie – 50 Jahre später – von mir sein. Sie ist von mir als Zitat ordnungsgemäß kenntlich gemacht – und schon kündigen sich Einschränkungen an.
Welcher Maßstab ist heute anzulegen, diese Feststellung zu treffen, in welchem Sinne ist von ‚neuartig’, ‚wichtig’ und ‚einflussreich’ zu sprechen?
Eine Frage, die hier in der Luft hängen bleiben soll …
Es bleibt ein Rest nicht ganz auflösbarer Nebulosität, denkt man an den Namen Walter Hasenclever.
Auf eine saloppe Formel gebracht, ließe sich sagen, das Werk von Walter Hasenclever ist rezeptionsgeschichtlich zwischen die Stühle von Expressionismus und Exilforschung geraten. Unter dem Label ‚Expressionismus’ steht Hasenclever mit seinem in Leipzig geschriebenen Dauerbrenner Der Sohn zwar noch auf der literaturgeschichtlichen Tagesordnung, überwiegend aber wird sein Werk in Fußnoten marginalisiert …
Es bleibt dabei: Der Name Walter Hasenclever steht paradigmatisch für Expressionismus, Bücherverbrennung, Exil und Selbstmord. Diese Schlagworte lassen sein Werk schnell und problemlos verorten, ohne sich konzentriert mit ihm auseinandersetzen zu müssen …
Aus der Verlagslandschaft ist Hasenclever nicht ganz verschwunden, so richtig greifbar ist er aber auch nicht. Und ‚greifbar’ ist ein Schlagwort, das noch in einem ganz anderen Zusammenhang konstitutiv zu sein scheint für die Verfasstheit von Hasenclevers Werk:
Es ist selbst auf eine eigentümliche Weise nicht greifbar.
Hasenclever scheint mir der Typus von Schriftsteller zu sein, der durch permanente Suchbewegung sich in ästhetischer Diversifikation fast verliert und ‚Geleistetes’ im Stadium der Neuorientierung wieder verwirft bis hin zur Abqualifizierung vorgängiger Arbeiten, sobald etwas Neues am Horizont erscheint, von dem Hasenclever Großes erwartet, wie er in einem Brief an seinen Verleger Kurt Wolff in Leipzig über sein gerade entstehendes Stück Die Menschen am 24. April 1918 kundtut, in dem er seine beiden Stücke Antigone und Der Sohn mit dem er so großen Erfolg hatte, kurz und klein redet …
Das ‚Leisten’ des Werks als beinahe herbeizuzwingende Lebensaufgabe im Bewusstsein, mit seiner Dichtung nie anzukommen, sondern immer unterwegs zu sein zu einer unsagbaren ‚anderen’ Sprache, in paradoxer Bewegung pendelnd zwischen ‚Unsäglichkeit und Sagnis’, wie er es in dem Briefgedicht Elfte Antwort formulierte, das war Stachel und Dilemma zugleich eines Zeitgenossen von Walter Hasenclever, den dieser Konflikt allerdings sprichwörtlich zu einem Höchstmaß an Produktivität und Unnachgiebigkeit anstiftete, sollte diese sich ihm versagen – die Rede ist von Rainer Maria Rilke.
Auch bei Hasenclever blitzen solche Momente des Unbedingten auf, wie zahlreiche seiner Briefe belegen …
Dass Hasenclever als der prototypische Expressionist, geradezu als Parade-Expressionist firmiert, ist angesichts der thematischen, sprachlichen und stilistischen sowie der gattungs-typologischen Vielfalt seiner Literatur höchst verwunderlich.
Michael Köhlmeier
Aus seiner Dankrede zur Verleihung des Hasenclever-Literaturpreises 2014
(WHG-Jahrbuch 2014/2015, S. 18 f.)
„Wenn ich mein Leben mit dem des Walter Hasenclever vergleiche, mein Leben und die geografische Umgebung dieses Lebens, so darf ich, da ich nun 65 Jahre alt geworden bin, satt und selbstsicher behaupten: Ich lebte in gnadenvollen Zeiten …
Ich lebte als ein Bevorzugter, als ein Begnadeter, ich sage das trotz aller tragischen Momente in meinem Leben.
Ich durfte mit vierundzwanzig Jahren die radikalsten Ansichten vertreten.
Ich durfte in Bertolt Brechts Stück Die Maßnahme einen diskutierenswerten Beitrag zu einer revolutionären Moral erkennen, ohne dass mich jemand zur Rechenschaft gezogen oder, schlimmer, beim Wort genommen hätte.
Als Walter Hasenclever vierundzwanzig Jahre alt war, brach der Krieg aus, der später der Erste Weltkrieg genannt wurde. Er hat sich freiwillig gemeldet. Er hat diesen Krieg begrüßt. Wie so viele andere.
Seine Euphorie hielt allerdings nicht lange. Bereits ein Jahr später begegnet uns ein überzeugter, sich offen und laut bekennender Pazifist …
Mir hat man das Leben gelassen. Damit meine ich:
Man hat es mir überlassen, wie ich lebe.
Wer auch immer dieser ‚man’ ist.
Dem Walter Hasenclever hat man das Leben genommen.
Und wir wissen, wer dieser ‚man’ ist. Es waren die verdammten Nazis.
Sie haben seine Bücher verbrannt, sie haben ihn vertrieben.
Lange bevor er sich das Leben genommen hat, haben sie ihm das Leben genommen.
Was hätte aus ihm werden können! Was hätte er geschrieben, wenn ihm seine Zeit nicht ein Thema diktiert hätte, wenn nicht seine Zeit dem Verbrechen günstig gewesen wäre?
Einer wie ich, der hat nicht mit der Zeit zu kämpfen, in der er lebt, mir diktiert die Zeit kein Thema. Ich darf schreiben ohne Thema. Ich darf den Hut ziehen vor der Poesie.
Ich lebe in der Bel Etage der Schriftstellerei …
Ich stelle mir das Jenseits als eine nach Ständen organisierte Siedlung vor.
Da gibt es das liebliche Tal der Gärtner, und da gibt es den Hügel der Schriftsteller.
Ganz oben wohnt Shakespeare.
Auf dem Weg dorthin liegt irgendwo der Bungalow von Walter Hasenclever.
Ich klopfe an seine Tür – er öffnet, ich trete ein, stelle mich vor und sage, ich habe im November 2014 jenen Preis bekommen, der seinen Namen trägt.
Er bittet mich, Platz zu nehmen, und dann trinken wir einen …“
Jenny Erpenbeck
Aus der Dankrede zum Hasenclever-Preis von 2016
(WHG-Jahrbuch 2016/2017, S. 34 f.)
„Vor wenigen Tagen haben wir den Nigerianer Bashir in Berlin,
in fremder Erde, begraben.
Wir Deutschen wissen doch, wie schwer so ein Tod in der Fremde wiegt.
Hat sich nicht auch der Flüchtling Walter Benjamin in der Fremde umgebracht, 1940,
in Portbou, Spanien?
Und Hasenclevers enger Freund Kurt Tucholsky, 1935, in Schweden?
War nicht auch Ernst Toller, ebenfalls guter Freund Hasenclevers, ein Flüchtender – der seinem Tod in die Arme lief? Über die Schweiz und England führte ihn sein Weg nach New York, wo er sich 1939 das Leben nahm.
Es heißt, dass Joseph Roth, selbst Exilant in Paris, zusammenbrach, als er von dessen Tod erfuhr. Wenige Tage später starb auch er dort, in einem Armenhospital.
Stefan Zweig beging Selbstmord in Brasilien. Franz Werfel, auch einer der engsten Freunde Hasenclevers, starb am Ende des Krieges, 1945, herzkrank in der Emigration in Los Angeles.
Ja, man kann am Fremdsein sterben, an der Verzweiflung, an der Ungewissheit.
Man kann an dem sterben, was man zurücklassen muss, an der verbrannten Heimat –
an der Angst, die die Gegenwart besetzt hält, und auch an der Zukunft, die ausbleibt.
Hasenclever, dessen Generation auch mein Großvater angehört hat, ist wie dieser freiwillig in den Ersten Weltkrieg gezogen. Am Rand der Schlachtfelder standen zum ersten Mal Wissenschaftler, um die Wirkung des Kampfgases live zu beobachten.
Das Gas funktionierte. Mein Großvater kam nur knapp wieder daraus hervor. Er schrieb ein Antikriegsbuch und wurde Kommunist.
Remarque, der in Osnabrück zum Freundeskreis meines Großvaters gehört hatte, schrieb seinen Welterfolg Im Westen nichts Neues.
Auch Hasenclever verwandelte sich innerhalb weniger Kriegswochen in einen Pazifisten und schrieb das Schauspiel Die Menschen und etwas später das Drama Jenseits in der erklärten Absicht, die Welt der Lebenden und der Toten zu verbinden …
Die zwanziger Jahre sind eine Suche.
Manche der den kleinstädtischen Zirkeln entsprossenen Rebellen glauben einen Moment lang an die Weltrevolution, andere an Paneuropa, wieder andere flüchten ins Morphium.
Hasenclever erlebt die Niederschlagung des Kapp-Putsches in Kiel, entsagt jeglicher Ideologie und zieht sich ins Erzgebirge zurück, um den Mystiker Swedenborg ins Deutsche zu übersetzen und in lesbarer Form herauszugeben.
‚Die Einsicht’, schreibt er im Nachwort zu seiner Swedenborg-Nachdichtung, ‚dass dieses Dasein zwischen Geburt und Tod nicht unser einziges und nicht unser letztes Dasein bedeutet, dass wir zwangsmäßig in die Welt gesetzt sind, um eine Aufgabe darin zu erfüllen, die im höchsten und verantwortlichsten Sinne wir selbst sind, ist der erste Schritt zur Einkehr:’
In meinem Buch Gehen, ging, gegangen gibt es eine Stelle, in der ich darauf Bezug nehme, dass die Flüchtlinge, die Krieg und waghalsige Überfahrten überlebt haben, ebenso gut und mit etwas weniger Glück am Grunde des Meeres liegen könnten. Und sie wissen das alle …
Heute stellen die Literaturkritiker die Frage, ob ein Buch, das so genannte ‚echte Literatur’ sein will, sich mit der Gegenwart beschäftigen darf. Und ich sage, natürlich darf es das.
Die literarische Form des Nachdenkens ist notwendig, gerade für uns, in dieser Zeit, die für keines der Probleme eine politische Lösung bereithält.
Auch wir müssen suchen. So wie Hasenclever und seine Freunde gesucht haben.“
Robert Menasse
Aus der Dankrede zum Walter-Hasenclever-Preis 2018
(WHG-Jahrbuch 2018/2019, S. 139 f.)
„Wie glücklich und beschwingt war ich, als ich erfuhr, dass mir der Walter-Hasenclever-Literaturpreis der Stadt Aachen zugesprochen wurde. Anerkennung! Geld! Ansporn!
Der Dank der Öffentlichkeit, die jetzt zweifellos auch in Zukunft Erwartungen und die schönsten Hoffnungen in mich setzt.
Ich sitze allein in meinem Zimmer und sehe mich gesehen!
Ich finde es auch sinnig, dass ich einen Preis bekomme, der nach Walter Hasenclever benannt ist. Nicht, weil ich ein Hasenclever-Spezialist wäre (mir war Hasenclever bloß ein Begriff, weil ich ein fleißiger Germanistik-Student war und gute Lehrer hatte), und auch nicht, weil ich jemals gesagt habe oder sagen würde, dass ich mich wesentlich in der Tradition Hasenclevers sehe. Aber ich habe doch jetzt das Gefühl, dass gerade jetzt meine literarischen Ansprüche und auch meine Ängste einige Beziehung zu Walter Hasenclever haben …
Ich lebe heute in Wien, einer der lebenswertesten und bestverwalteten Städte der Welt, die zum Echoraum von Ressentiment, Xenophobie und Zynismus geworden ist.
Ich sehe Hass in den Gesichtern von Menschen, die ‚Wir sind das Volk’ skandieren und die deshalb nur glauben, die Mehrheit zu sein, weil sie allen anderen absprechen, zum Volk zu zählen. Ich sehe Politiker, die deren Ängste ‚ernst nehmen’, aber nicht meine Ängste vor denen …
Ich sehe Menschen, die die Menschenrechte für einen Kuchen halten, von dem man nur dann eine Schnitte bekommen soll, wenn man den richtigen Pass hat, nämlich ihren.
Und ich sehe Politiker, die diesen Menschen versprechen, dass sie dafür sorgen werden, dass nicht zu viele den richtigen Pass bekommen. Denn wenn man die unteilbaren Menschenrechte doch teilt, dann ist für viele nichts mehr übrig.
Ich sehe Konflikte und Kriege zwischen Religionen, die nicht beweisen, dass ohne Gott alles erlaubt ist, sondern, dass mit Gott alles erlaubt ist.
Und ich sehe die Finger, mit denen der Journalist Kashoggi geschrieben hat, abgehackt und in Säure aufgelöst, und ich sehe darin das Säurebad unserer Werte. Und ich kenne jetzt auch den Preis unserer Werte: 5, 73 Milliarden.
[Das ist die Summe, die Saudi-Arabien für Waffenlieferungen aus Europa bezahlt.]
Walter Hasenclever starb von eigener Hand, verzweifelt von den Weltenläuften, die diesen kreativen, sozialen, analytischen Geist in ein schwarzes Loch stießen, diesen großherzigen Freund seiner Freunde, der heiter blieb, solange es irgend ging.
Er starb an einem 21. Juni in finsterer Zeit.
An einem 21. Juni wurde ich geboren, in einer Zeit der Pastellfarben.
Ich hatte Glück, ich kam in Freiheit und Rechtsstaat zur Welt, in einer Zeit der schönsten Zukunftshoffnungen. Und heute sehe ich den Rechtsstaat und seine Werte in Gefahr, und ich sehe keinen Optimismus und keinen Anlass für Optimismus.
Wird das weiße Blatt, auf dem wir unsere Geschichte schreiben, dunkel?
Es macht mich sprachlos, im Moment buchstäblich.
Daher immer nur dieser eine Satz, den ich seit Tagen schreibe, immer nur dieser eine Satz, nach dem ich nicht weiter weiß.
Aber ich werde weiterhin jeden Tag diesen einen Satz schreiben, bis ich einen zweiten habe, besser aber einen neuen ersten.
Jetzt verrate ich Ihnen diesen Satz, den ich seit Tagen schreibe. Er lautet:
Ich muss neu beginnen.